„Wir haben immer weiter Visa ausgestellt“

Karl Peterlik (Foto: Archiv des Akademischen Forums für Außenpolitik - Hochschulliga für die Vereinten Nationen)

Die Republik Österreich stellte nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 Visa an mehrere Tausend tschechoslowakische Bürger aus. Der spätere Botschafter Karl Peterlik war schon damals Diplomat an der Wiener Gesandtschaft an der Moldau und erinnert sich lebhaft an die Ereignisse.

August 1968  (Foto: Anefo,  Wikimedia Commons,  CC0 1.0)
Am Abend des 20. August 1968 war Karl Peterlik auf einem Empfang. Als er gerade nach Hause kam, klingelte das Telefon. Ein befreundeter Journalist sagte ihm damals, dass der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen begonnen habe. Der junge Botschaftsangestellte stieg dann in sein Auto und wollte sich selbst ein Bild machen. Zunächst sah er dabei nur diskutierende Menschen auf der Straße und allgemeine Unruhe. Doch dann:

„Ich bin zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei gefahren, da waren dann aber schon die Panzer. Da war mir klar, dass ich nach Hause fahren sollte, um nach meiner Familie zu sehen. Das Problem war aber, dass wir am Klarov gewohnt haben, wo sich ein Ausleger des Ministerialratsgebäudes befand. Dort war demnach auch schon alles umzingelt. Ich konnte nicht zu unserem Haus und musste mich quer durch den Park durch Zeichen mit meiner Frau verständigen. Den mongolischen Soldaten mit seinem Gewehr haben weder mein roter Diplomatenpass noch der Begriff ‚Österreichische Botschaft‘ interessiert, so dass ich von da weg musste.“

Karl Peterlik  (Foto: Archiv des Akademischen Forums für Außenpolitik - Hochschulliga für die Vereinten Nationen)
Der gebürtige Prager Peterlik war damals Diplomat in der tschechoslowakischen Hauptstadt, konkret die Nummer drei an der österreichischen Gesandtschaft. Wie erlebte er aber insgesamt das Jahr des Prager Frühlings? Und war dessen Niederschlagung aus Sicht des Diplomaten Peterlik absehbar?

„Alexander Dubček wollte sich ja nicht von Moskau lossagen. Er wollte nur einen anderen Kommunismus, einen mit menschlichem Antlitz. Er wollte mehr Freiheiten und die Repressionen zurücknehmen. Wir waren da aber sehr skeptisch, wie lange das Moskau noch gefallen könnte. Man hat sich da schon Gedanken gemacht, wie das alles enden wird. Erwartet wurde allgemein, dass Breschnew Dubček irgendwie disziplinieren und ihm klarmachen würde, dass er zu weit gegangen war mit seinen Reformen. Mit einem gewaltsamen Einmarsch hat bis zuletzt aber niemand gerechnet.“

Im Sinne einer offenen Gesellschaft handeln

Rudolf Kirchschläger  (Foto: Archiv des indischen Ministeriums für Information und Rundfunk,  Wikimedia Commons,  Public Domain)
Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes geschah in den frühen Morgenstunden des 21. August 1968. Auch die österreichische Gesandtschaft, die sich heute wie damals in der Viktor-Hugo-Straße im Stadtteil Smíchov befindet, war in Alarmbereitschaft. Es dauerte nicht lange, und die Einrichtung war voll von Menschen. Nicht nur Österreicher kamen und wollten aus dem Land, sondern auch Tschechoslowaken in der Hoffnung auf ein Visum.

Insgesamt war die Lage chaotisch, denn in den ersten Momenten wusste niemand, was wirklich geschieht. Zudem war der österreichische Gesandte in Prag, der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, zu jener Zeit in Jugoslawien im Urlaub.

„Wir haben nach Wien gemeldet, wie die Situation ist und dass die Gesandtschaft voll von Menschen sei. Da kam die Direktive, die Botschaft zu sperren und nur für österreichische Staatsbürger zugänglich zu machen. Wir sollten den Tschechoslowaken klarmachen, dass die Vertretung vor allem den eigenen Bürgern diene und dass sie draußen warten sollten.“

Österreichische Botschaft in der Viktor-Hugo-Straße  (Foto: Google Street View)
Danach fasste das diplomatische Personal in der österreichischen Gesandtschaft eine wegweisende Entscheidung – uneingeschränkt Visa an tschechoslowakische Bürger auszugeben. Dabei habe man sich nach der Staatsräson Österreichs gehalten, ein offenes und liberales Land zu sein:

„Schon in den frühen Morgenstunden kamen da Tschechoslowaken mit Pässen und Ausreiseerlaubnis, die um Visa angefragt haben. Und wir haben die Stempel dann auch erteilt, in den ersten Tagen waren es schon mehrere Hundert. Das lief ebenerdig durch das Fenster der Gesandtschaft. Wir haben die Visa-Erteilung nie eingestellt, das ist immer weitergegangen.“

Bis Dezember waren es rund 100.000 Visa, die tschechoslowakische Bürger nach Österreich brachten. Für die Vertretung der Alpenrepublik war die Ausgabe von Visa nicht so heikel, wie sie es beispielsweise für die Botschaften Deutschlands oder der USA gewesen wäre. Denn die Alpenrepublik saß als neutrales Land mehr oder weniger zwischen den Stühlen, und das im positiven Sinne.

Keine Zweifel in Wien

Österreichisches Visum 1968
Laut Peterlik wurde die Gesandtschaft von tschechoslowakischer Seite in keiner Weise behindert, auch wenn es in den ersten Tagen nach dem Einmarsch ein erhöhtes Polizeiaufgebot rund um das Gesandtschaftsgebäude gab. Und auch die Grenzschützer hielten die Bürger nicht auf, die letztlich in Richtung Süden ausreisten. Schon lange hält sich aber das Gerücht, dass gerade die Regierung in Wien nicht so begeistert war von dem Schritt der Diplomaten in Prag. So sollen zwei Telegramme von der Donau einen Stopp der Visa-Erteilung gefordert haben. Einmal ging es laut Peterlik jedoch allein um die Entlastung der Gesandtschaft in den ersten Tagen nach der Invasion. Ein anderes Mal habe die Aufforderung praktische Gründe gehabt, so der Diplomat im Ruhestand:

„Das Telegramm kam von Innenministerium. Wir sollten die Visa-Erteilung einstellen, da die sowjetischen Besatzer zigtausende Passformulare beschlagnahmt haben sollen und die Gefahr des Missbrauchs bestand. Kirchschläger protestierte jedoch sofort dagegen und schrieb: ‚Wir müssen unserem humanitären Auftrag nachkommen und haben einen Ruf zu verlieren. Wir werden weiter Visa erteilen und fordern, die Aufforderung wieder zurückzunehmen.‘ So geschah es am Ende dann sogar.“

Kurt Waldheim  (Foto: Fritz Bach,  ANeFo,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0 NL)
Laut Karl Peterlik gab es in diesem Sinne keine Kontroverse zwischen Außenminister Kurt Waldheim und dem Botschafter Kirchschläger, auch wenn dies oft behauptet wird:

„Das ist so natürlich nicht richtig. Kirchschläger hat auf seiner Rückreise aus Jugoslawien in Wien Station gemacht und hat sich mit Waldheim beraten. Der Botschafter hat Waldheim um freie Hand gebeten, je nachdem wie die Lage in Prag sei. Der Außenminister hat ihm das auch zugestanden mit dem Hinweis: Wenn alles gut geht, ist’s eh recht, wenn es schief geht, dann war es ein eigenmächtiges Handeln des Botschafters.“

Die lockere Visums-Politik wurde zum Vorreiter für die Entscheidung anderer Botschaften in Prag, ebenfalls Reiseerlaubnisse für Tschechoslowaken zu erteilen:

„Es haben natürlich andere Vertretungen Visa ausgegeben, also die Schweizer, Deutschen oder Franzosen. Die haben uns beobachtet und gesagt: ‚Solange die Österreicher Visa erteilen, fahren wir ebenso damit fort.‘ Bei den anderen Botschaften war aber kein so großer Ansturm wie bei uns. Österreich war nämlich ein neutrales Land, und eine Urlaubsreise dorthin blieb zunächst unverdächtig.“

Prägende Erinnerungen

Samtene Revolution  (Foto: Gampe,  Wikimedia Commons,  CC BY 3.0)
Karl Peterlik verließ Prag Anfang der 1970er Jahre, er wurde Botschafter in anderen Ländern, unter anderem in Thailand. Die Beziehungen zur Tschechoslowakei brachen aber nie ab:

„Wir haben immer Kontakt zu unseren Freunden gehabt und haben diesen noch heute. Durch die Distanz ist das natürlich weniger geworden. Die Beziehungen haben sich jedoch dann erneuert, als ich selbst Botschafter geworden bin in Prag.“

Das war 1986, als der ehemalige Botschafter Kirchschläger Bundespräsident in Österreich wurde. Peterlik blieb schließlich bis 1993 und war so der letzte österreichische Botschafter in der Tschechoslowakei. In seine Amtszeit fiel dabei ein weiteres großes Datum – die Samtene Revolution von 1989. Gab es damals Parallelen und ähnliche Befürchtungen wie 1968?

„Wir waren nicht in Alarmbereitschaft, es war schließlich ein Prozess, der sich angebahnt hatte. Es war Gorbatschow, der durch die Bruderländer gefahren ist und gesagt hat, dass man sich nicht mehr darum kümmern könnte, wie das System dort jeweils aussieht. Da hat man dann gewusst, dass es in Richtung echter Demokratisierung geht. Und so ist es dann auch gekommen.“

Der Prager Frühling ist für Karl Peterlik und auch seine Frau nach wie vor eines der wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben. Eines, das sie am meisten geprägt hat. Deshalb ist es ihnen heute besonders wichtig, die Erfahrungen jener Zeit an die Generation ihrer Enkelkinder weiterzugeben.