Das fidele Engelchen

Codex Manesse (Foto: CC0)
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Heute gehen wir bis ins Mittelalter zurück, um die Vorläufer für die heutige Popmusik zu finden. Der wichtigste historische Fund nennt sich „Fideles Engelchen“, das Lied ist rund 600 Jahre alt. Und mit diesem Hit der tschechischen klassischen Musik beschäftigen wir uns in einem weiteren Teil unserer Serie.

Illustrationsfoto: Codex Manesse,  CC0

Schon zu seiner Zeit klang dieses Lied „Fideles Engelchen“ etwas extravagant. Es war anders als die meisten damaligen liturgischen Kompositionen, und auch heute wirkt es noch ungewöhnlich. Seine Melodie klingt für die heutigen Menschen kaum hitverdächtig.

Im 13. und 14. Jahrhundert waren solche Lieder in Europa teilweise ziemlich in. Meist handelte es sich um sogenannte höfische Lyrik, darunter verstand man Liebeslieder. Sie handelten – wie gesagt – von Liebe, aber auch vom Tod oder der Tapferkeit. Natürlich entstand solcher Gesang auch in Böhmen. Aber das „Fidele Engelchen“ unterscheidet sich von dem damaligen Trend.

Anders als die übrigen Lieder, die bis heute durch Notenaufzeichnungen bekannt sind und aus Westeuropa stammen, also aus Deutschland, hauptsächlich aber aus Frankreich beziehungsweise Aquitanien, erhebt sich dieses Lied über die Konventionen seiner Zeit. Mit seiner einfachen Melodie spricht es auch das einfache Volk an. Vermutlich gab es noch sehr viel mehr Lieder dieser Art. Aber, und das ist ein wenig traurig: Nur sehr selten haben sich dazu auch die Noten erhalten…

Durch Zufall erhalten

Jaroslav Pohankas Buch „Tschechische Musikgeschichte in Beispielen“

Dass dies beim „Fidelen Engelchen“ anders ist, beruht auf einen glücklichen Zufall. Und zwar wegen der sogenannten Vyšehrader Sammlung von Tomáš Štítný von Štítný, dies ist ein seltenes Kompendium von Texten aus dem Jahr 1396. Das Engelslied ist dort neben zwei anonymen Volkstänzen abgedruckt.

Von großer Bedeutung für die Rekonstruktion dieses Liedes ist auch Jaroslav Pohankas Buch „Tschechische Musikgeschichte in Beispielen“. Dort sind die Noten des mittelalterlichen Stückes auf moderne, neuzeitliche Weise gedruckt. Und seit damals, also den 1950er Jahren, hat das Engelslied noch viele andere Bearbeitungen erfahren. Schriftsteller und Musiker messen sich noch heute in verschiedenen Analysen und wollen beweisen, dass es ein äußerst gutes Werk seiner Zeit ist.

Zu diesen Experten gehören auch Komponisten, die die Melodie an unsere modernen Ohren angepasst haben. Vor allem ist hier Jaroslav Krček zu nennen. Seine wunderbare Bearbeitung tschechischer mittelalterlicher Musik heißt: „Holz kleidet sich in Musik“ (Dřevo se hudbou odívá). Dies ist eine Analogie zu dem mittelalterlichen Lied „Holz kleidet sich in Blätter“ (Dřevo se listím odívá).

Der böhmische Minnesang

Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien  (Quelle: CC0)

Aber zurück zur Zeit der Minnesänger, der mittelalterlichen Autoren weltlicher Lieder. Oder auch zu den Troubadouren, die historisch noch früher anzusiedeln sind. Diese Dichter, Komponisten, Musiker und Sänger in einer Person wurden im 11. Jahrhundert im ehemaligen Aquitanien geboren, dem damals sehr kultivierten und sehr reichen südwestlichen Teil des heutigen Frankreich.

Ihre Sprache war Okzitanisch, eine romanische Sprache, die mit Französisch und Katalanisch verwandt ist. Aus dem Okzitanischen kommt auch ihr Name. Trobar bedeutete „erschaffen“, und der Trobador ist also ein Schöpfer. Der berühmteste Troubadour, der erste, der in der Geschichte bekannt ist, ist Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien. Er wurde Wilhelm, der Troubadour genannt.

Die Kirche betrachtete ihn nach den Maßstäben der damaligen Zeit als lasterhaft und unmoralisch. Sie exkommunizierte ihn wegen seines ausschweifenden Lebens. Bis heute haben sich elf gereimte Liedkompositionen von ihm erhalten. Sie besingen die sinnliche Liebe sowie eine vergötterte Frau. Später, um die Mitte des 12. Jahrhunderts, verbreitete sich die höfische Kunst auch in Deutschland, wo die gesungene Lyrik als Minnesang bezeichnet wurde.

Foto: Supraphon

Die Poesie der Troubadoure kam erst im 13. Jahrhundert in die böhmischen Länder und wurde während der letzten Přemysliden auch am böhmischen Königshof kultiviert. Ein begeisterter Anhänger der Aufführungen war König Wenzel I. Auch Wenzel II. versuchte sich mit deutschen Versen im Geiste des Minnesangs. Und ebenso der Luxemburger Wenzel IV., der den Schreibern Geschichten auf Deutsch diktierte. Diese wurden ihm dann wiederum von berühmten Minnesängern vorgesungen.

Der verliebte Geistliche

Trotz des Interesses und der Gunst der Herrscher gab es zu dieser Zeit bedeutend mehr religiöse denn weltliche Lieder. Dies lag nicht nur an der Frömmigkeit, sondern auch am weit verbreiteten Analphabetismus. Daher ist es wahrscheinlich, dass der Autor des berühmtesten tschechischen weltlichen Liedes aus dem Mittelalter ein Geistlicher war. Vielleicht ein fröhlicher, vielleicht ein trauriger, aber definitiv ein verliebter Kleriker.

Ivo Žídek  (links). Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks

Sein Werk ist das umfangreichste höfische Liebeslied des tschechischen Mittelalters: „Alle Freude verlässt mich“. Es ist möglich, dass der Autor ein gewisser Záviš von Zap war, ein Vertrauter und vermutlich auch der Beichtvater des Prager Erzbischofs Jan von Jenštejn. Übrigens beliebte der Kleriker laut Alois Jirásek in seiner Jugend sehr fröhlich zu sein.

Einem heutigen Hörer die mittelalterliche Musik näherzubringen, ist ein ziemliches Problem. Und es liegt sehr an der Auswahl und an der Art der Interpretation. Dieser schwierigen Aufgabe haben sich oft renommierte Künstler von höchster Begabung angenommen, die auf Opernbühnen berühmt wurden. Unter ihnen war auch Ivo Žídek, der sehr unterschiedliche Ausdrucksformen beherrschte. Und so können wir letztlich das „Fidele Engelchen“ hören, diesen reinen Ausdruck mittelalterlicher Freude, und zwar in der Version von Ivo Žídek.

Der Zyklus „Hits der klassischen Musik“ beruht auf einem Projekt von Lukáš Hurník und Bohuslav Vítek zu den „Hits des Jahrtausends“, das der Kultursender Tschechischer Rundfunk – Vltava ausgestrahlt hat.

Das „Fidele Engelchen“ ist eines der wenigen erhaltenen Beispiele mittelalterlicher Musik aus Böhmen. Es wurde vor 600 Jahren von einem verliebten Kleriker geschrieben. In der Gegenwart hat es zahlreiche Modernisierungen und Anpassungen erfahren.

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