„Dann fielen zwei Schüsse“ – Zeitzeugen berichten im Internet

František Kraus (Foto: www.pametnaroda.cz)

„Paměť národa“, auf Deutsch „Erinnerung des Volkes“ – so heißt eines der weltweit größten Zeitzeugen-Projekte im Internet. Es wurde diese Woche frei geschaltet. Das Projekt wurde in Tschechien entworfen, soll im kommenden Jahr gesamteuropäisch werden und steht interessierten Laien sowie Fachleuten zur Verfügung. Auf den Webseiten sind die Aussagen von mehreren hundert Menschen zu finden, die über ihr Schicksal während der Nazi-Herrschaft, des Zweiten Weltkriegs oder des Kommunismus erzählen. Viele sind bewegende Geschichten, in denen sich die Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts spiegeln.

„Im August 1942 bekam ich eine Vorladung zum Transport und die Nummer 63 um den Hals. Jeder musste mit einem 50 Kilo schweren Koffer in den Prager Industriepalast kommen. Dort waren auf dem Boden mit Kreide Quadrate eingezeichnet, die Ziffern hatten. Jeder wusste also, wo er sich hinsetzen musste. Das dauerte drei Tage. Jeder musste dann unterschreiben, dass er sein Eigentum freiwillig den Deutschen überlässt, und übergab den Hausschlüssel. In den Personalausweis erhielten wir ein ´J´ eingestempelt - für Jude. Auf diese Weise sammelten sie Tausend Leute und führten sie um vier Uhr früh auf den Bahnhof in Bubeneč. Dann fuhren wir nach Theresienstadt.“

So beginnt die Leidensgeschichte von František Kraus - mit dem Transport ins KZ Theresienstadt. Ein Jahr später wird der Prager Jude nach Auschwitz gebracht. Er überlebt aber die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Doch frei bleibt František Kraus nicht wirklich lang. 1952 sperren ihn die Kommunisten wegen des Verdachts auf Spionage ein. Im Prager Gefängnis Ruzyně sitzt er erst einmal in Untersuchungshaft.

„In Ruzyně war ich ein Jahr lang – bis ich dort einen Selbstmord versuchte. Ich bin mit dem Kopf gegen die Zentralheizung gerannt. Danach ordnete der Arzt an, mir noch einen weiteren Gefangenen in die Zelle zu geben. Sie steckten den Leiter der Gestapo aus Bratislava zu mir.“

František Kraus wurde dann zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Er versucht in Berufung zu gehen, doch vergebens. Nach sieben Jahren Haft hält er es nicht mehr aus. Um vorzeitig entlassen zu werden, lässt er sich vom tschechoslowakischen Geheimdienst StB als Agent anwerben. Bis zum Ende des kommunistischen Regimes ist er Spitzel, zugleich steigt er im Rat der jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei bis zum Generalsekretär auf.

Am Schicksal von František Kraus zeigt sich das ganze Drama des 20. Jahrhunderts. Und genau das haben die Gründer der Webseite www.pametnaroda.cz (auch: www.memoryofnation.eu.) im Sinn: die Geschichte von Unrecht und Totalitarismus anhand von konkreten Schicksalen darzustellen.

Initiiert hat die Webseite der Verein Post bellum – ein Zusammenschluss von Historikern und Journalisten. Partner sind der Tschechische Rundfunk und das Institut für das Studium totalitärer Regime. Vor acht Jahren begann Post bellum Zeitzeugen-Aussagen zu sammeln. Anfangs konzentrierte sich der Verein auf die Lebensgeschichten von Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg.

„Dadurch ist ein ziemlich großes Projekt entstanden. Mittlerweile hat Post bellum als Träger des Projekts etwa 800 Aufnahmen mitgeschnitten. Vor zwei Jahren ist Mikuláš Kroupa, der Chef von Post bellum, dann auf die Idee gekommen, ein Internet-Projekt zu gründen. Die Sammlung von Zeitzeugen-Interviews bildet nun die Basis des Internetportals. Es sind Aussagen von Kriegsveteranen, politischen Gefangenen aus den 50er Jahren, Menschen, die die sowjetische Invasion von 1968 erlebt haben. Langsam bewegen wir uns in der Zeit voran und kommen zu den jüngeren Zeitzeugen, also denen aus den 70er und 80er Jahren“, sagt Ladislav Lindner-Kylar vom Tschechischen Rundfunk.

Lindner-Kylar half dem Projekt mit auf die Beine und ist dort der Web-Editor. Auf den Webseiten ist jeder Audio-Mitschnitt ergänzt durch zeitgenössische Fotografien und die Lebensläufe der Zeitzeugen. Und weil die Webseiten als europäisches Projekt gedacht sind, soll Englisch die Hauptverkehrssprache des Internetportals werden. Mikuláš Kroupa, der Leiter von Post bellum, erläutert:

„Die etwa 800 Aufzeichnungen oder Erinnerungen von Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, von politischen Gefangenen ab den 50er Jahren oder von Geheimdienst-Agenten, sind auf Tschechisch. Und zwar die Audio-Aufnahmen und die Texte dazu. Wir haben aber Auszüge aus den Audio-Aufnahmen ins Englische übersetzt, dazu Texte wie Lebensläufe und Anmerkungen.“

Bereits jetzt sind 15 Institutionen aus acht Ländern Partner bei dem Projekt. Dazu gehören zum Beispiel die Brücke/Most-Stiftung aus Dresden und die frühere Gauck-Behörde, heute umständlich Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik genannt. Ebenso dabei sind Institutionen wie das Imperial War Museum aus London oder das Institut zur Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus in Rumänien. Sie haben sich alle zusammengeschlossen zur – übersetzt - Europäischen Gemeinschaft der Erinnerung. Und sie sollen sich aktiv am Ausbau der Sammlung an Zeitzeugenaussagen beteiligen, wie Mikuláš Kroupa sagt:

„Wir rechnen damit, dass Anfang 2009 unsere Partner aus der Europäischen Union die Webseiten mit ihren eigenen Zeitzeugen-Sammlungen in den jeweiligen Sprachen ergänzen. Wir haben keine Absprache über die genaue Zahl an Zeitzeugen-Aussagen, die wir in unser Projekt aufnehmen wollen. Unsere Vorstellung ist jedoch, innerhalb der nächsten drei Jahre rund 5000 solcher Interviews zu haben.“

Bereits jetzt gibt es aber eine kleine Anzahl an Aufnahmen in Deutsch. Es sind die Aussagen von Deutschböhmen. Wie zum Beispiel von Erna Gudenrath, die einen Mord während der wilden Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei in den ersten Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs schildert:

„Es war so: Wir waren in dem Haus und jemand ist gekommen mit der Nachricht, dass Karl verhaftet worden wäre. Dann sind die zwei Kommissare mit dem Karl bei uns vorbeigegangen, Karl hatte keine Schuhe mehr an und sie sind schnurstracks auf den Berg hinaufgegangen. Dann fielen zwei Schüsse. Und sie sind dann ohne Karl zurückgekommen.“

Aber die Macher wollen nicht nur, dass sich Interessierte über die Schicksale der Menschen im 20. Jahrhundert informieren. Neue Fotos, Tondokumente oder Informationen sind immer willkommen, egal ob sie von einer wissenschaftlichen Institution, einer Schule, einer Einzelperson oder anderen stammen. Dazu muss man nicht studierter Historiker sein, aber das Material und sein Bereitsteller werden von den Verwaltern der Seiten überprüft. Denn Geschichtsklitterung, das wäre das Letzte, was Paměť národa im Sinn hat.