Das Ende der letzten Hoffnungen: 21. August 1969

21. August 1969 (Foto: Archiv des Museums der tschechischen Polizei)

Der 21. August 1968 ist in den Annalen der Geschichte fest verankert als der Tag, an dem die Reformbewegung „Prager Frühling“ in der damaligen Tschechoslowakei abrupt beendet wurde. In der Nacht zuvor waren die Sowjetarmee und weitere Truppen des Warschauer Paktes in das Land einmarschiert. Damit stellten die Besatzer klar, dass es den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn die große Mehrheit der Bevölkerung wollte, hierzulande nicht geben wird. Doch viele Tschechen und Slowaken hatten immer noch Hoffnungen. Diese mussten sie genau ein Jahr später endgültig begraben, am 21. August 1969.

21. August 1969  (Foto: Archiv des Museums der tschechischen Polizei)

Milan Bárta | Foto: Archiv des Instituts zum Studium totalitärer Regime
Der Prager Frühling von 1968 stand auf einem sehr breiten Fundament. Deshalb stellten sich auch viele Tschechen und Slowaken mit nichts als nur ihrem Körper den Sowjetpanzern entgegen, um im wahrsten Sinne des Wortes für ihre Überzeugung zu kämpfen. Doch rasch wurde klar, dass die geballte Militärmacht zu stark ist – und die Menschen hierzulande begannen zu resignieren. Einige, vor allem junge Leute wie die Studenten Jan Palach und Jan Zajíc, wollten die Bevölkerung aufrütteln und verbrannten sich selbst aus Protest gegen diese Hilf- und Mutlosigkeit. Im August des Jahres 1969 war daher die Lage im Land ziemlich unübersichtlich, erläutert der Historiker Milan Bárta vom Institut zum Studium totalitärer Regime:

Ludvík Svoboda und Gustáv Husák 1969  (Foto: Peter Zelizňák,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0
„Genau ein Jahr nach dem Einmarsch der Truppen der Warschauer Paktstaaten in der Tschechoslowakei war klar, dass es zu einem entscheidenden Aufeinandertreffen zweier großer Gruppen kommen wird. Da waren zum einen die Kräfte, die Interesse an einer Fortsetzung der Reformen hatten. Sie verurteilten die militärische Besatzung ebenso wie die zunehmende Politik der sogenannten Normalisierung unter Gustav Husák. Auf der anderen Seite aber standen genau jene Kräfte, die von Husák angeführt wurden: Es waren die Anhänger Moskaus in der Kommunistischen Partei, die sich der sowjetischen Macht unterordneten und auch mit ihr zusammenarbeiten wollten.“

Binnen eines Jahres hatten sich die Kräfteverhältnisse in der ČSSR also merklich verschoben. Eine wesentliche Rolle spielte dabei auch eine personelle Umbesetzung bei den Kommunisten, bemerkt Bárta:

Milan Bárta: „Die zentrale Wende erfolgte im April 1969, als sich definitiv offenbarte, dass die Reformkräfte unter den Kommunisten zurückgedrängt werden. An ihre Stelle gelangten Parteikader, die sich dazu entschieden hatten, Moskau zu dienen und von dort ihre Instruktionen zu empfangen.“

„Die zentrale Wende erfolgte im April 1969, als sich definitiv offenbarte, dass die Reformkräfte unter den Kommunisten zurückgedrängt werden. An ihre Stelle gelangten Parteikader, die sich dazu entschieden hatten, Moskau zu dienen und von dort ihre Instruktionen zu empfangen.“

Konkret war dies die Absetzung von Alexander Dubček als Generalsekretär der KPTsch. Er wurde durch den erwähnten Gustav Husák ersetzt. Und der neue Parteichef wusste nur zu gut, dass er sich vor den Machthabern im Kreml beweisen musste. Viele Menschen glaubten nämlich noch an ihre Idole aus der Reformbewegung wie Dubček, Regierungschef Oldřich Černík oder Präsident Ludvík Svoboda. Sie ahnten aber nicht, dass diese Politiker in ihrer Partei nicht mehr viel zu sagen hatten. Zum ersten Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings demonstrierten sie daher in Scharen gegen die Besetzung des Landes und für eine Fortsetzung der Reformbewegung. Ihre Wünsche aber wurden schnell durchkreuzt, und dabei spielten die Streitkräfte der Besatzer keine unwesentliche Rolle, schildert Bárta:

21. August 1969  (Foto: Archiv des Museums der tschechischen Polizei)
„Sie waren weiterhin ein entscheidender Faktor, denn sie nahmen Einfluss auf die Politik im Lande. Auf der einen Seite äußerten die Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Politik von Husák und so auch ihre Ablehnung zur Stationierung der Sowjetarmee im Land. Auf der anderen Seite aber ging die Clique um Husák äußerst brutal gegen die Demonstranten vor. Einer der Gründe dafür war die Angst vor einer weiteren Mobilmachung der Sowjetarmee und der damit drohenden Gefahr eines blutigen Massakers.“

Die Bürger des Landes waren aber nicht zu einer konzertierten und lange vorbereiteten Aktion auf die Straße gegangen, sondern nur spontan. Ihre Meinung taten sie an mehreren Tagen kund, rekapituliert Bárta:

„Bei der ersten Demonstration, die noch klein war, versammelten sich am 16. August vor dem Denkmal des Heiligen Wenzel in Prag einige Hundert Menschen. Diese Kundgebung wurde noch in ruhiger Weise aufgelöst, indem die Demonstranten dem Aufruf der Polizei widerstandslos folgten. An den folgenden Tagen nahm die Zahl der Protestierenden ständig zu, und am 19. August kam es bereits zu ersten schweren Zusammenstößen von vielen Tausend Menschen mit den Sicherheitskräften. Es fielen Schüsse, mehrere Demonstranten wurden verletzt. Am 20. August gab es die ersten Toten, und am 21. August kam es dann in der gesamten Tschechoslowakei zu Auseinandersetzungen von Demonstranten und der Polizei.“

Bárta: „Die Clique um Husák ging äußerst brutal gegen die Demonstranten vor. Einer der Gründe dafür war die Angst vor einer weiteren Mobilmachung der Sowjetarmee und der damit drohenden Gefahr eines blutigen Massakers.“

An diesem Tag vor 50 Jahren demonstrierten jüngsten Fernsehberichten zufolge allein in Prag an die 150.000 Menschen. Zu größeren Kundgebungen kam es zudem in Brno / Brünn und Liberec / Reichenberg, des Weiteren in Karlovy Vary / Karlsbad, Ústí nad Labem / Aussig, Opava / Troppau und Havířov, sowie im slowakischen Teil des Landes in Bratislava, Žilina und Košice / Kaschau.

Wie bereits erwähnt, wurde die Unterdrückung der Demonstrationen beziehungsweise deren Auflösung auch mit Waffengewalt durchgesetzt. Dabei kamen am 20. und 21. August 1969 erwiesenermaßen fünf Menschen ums Leben – drei in Prag und zwei in Brünn. Nach neuesten Erkenntnissen sprechen Historiker inzwischen sogar davon, dass sieben Menschen bei den Unruhen getötet wurden. Besonders tragisch ist dabei, dass unter den Opfern auch zufällige Passanten waren, die lediglich von der Arbeit nach Hause gingen. Dazu gehörte zum Beispiel der 28-jährige Stanislav Valehrach aus Brünn.

21. August 1969  (Foto: Archiv des Museums der tschechischen Polizei)
Um der großen Zahl der Demonstranten Herr zu werden, hatten sich die Kommunisten um Gustav Husák die Dienste von gleich drei bewaffneten Verbänden gesichert: von der Polizei (VB), der Armee und der Volksmiliz. Die letztgenannte Gruppierung war nichts anderes als eine illegale Streitmacht der Kommunisten. Und diese „bewaffnete Faust der Arbeitsklasse“, wie die Volksmiliz vollmundig betitelt wurde, war schließlich auch die gefährlichste der drei Einheiten, sagt Milan Bárta:

„Aufgrund vieler Zeitzeugenberichte lässt sich sagen, dass die Volksmiliz die wirklich brutalste Truppe unter den bewaffneten Organen war. Es gibt genügend Belege dafür, dass sie mitunter wahllos auf die Demonstranten schoss. Und bei ihrem Vorgehen in Prag kam es öfters vor, dass sie schon von ihrem Einsatzfahrzeug aus wild um sich schoss. Die Volksmiliz ging aber auch ohne Schusswaffen sehr brutal gegen Andersdenkende vor. Wenn sie im Einsatz waren, dann prügelten die Milizen teils wahllos auf die Protestierenden ein, egal ob darunter auch ältere Menschen oder Frauen waren.“

Vasiľ Biľak  (Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain)
Bezüglich der sieben Toten bei den Auseinandersetzungen in Prag und Brünn vor 50 Jahren ist bis heute nicht geklärt, wer auf die Opfer geschossen hat. Es können sowohl Angehörige der Polizei als auch Volksmilizionäre gewesen sein. Doch beispielsweise bei den zwei Toten aus Brünn sind sich Augenzeugen sicher, dass dafür nur die Volksmiliz in Frage kommt. Milan Bárta erläutert, warum gerade diese Gruppe so beflissen in den Diensten der Kommunisten stand:

„Bei der Volksmiliz waren in erster Linie Leute, die einfache Arbeiter waren, mit ihrer Zugehörigkeit zu der bewaffneten Truppe aber eine größere Beachtung und Anerkennung erfuhren. Sie trainierten regelmäßig, wurden an der Waffe ausgebildet und bekamen vorgeschrieben, dass sie bei einer Bedrohung durch Feinde der Republik in vorderster Front zu kämpfen hätten.“

Mit der Niederschlagung der Proteste vor 50 Jahren setzten sich im Land endgültig jene Kommunisten durch, die auf eine sowjettreue Politik umgeschwenkt waren. Dabei standen die Genossen um Gustav Husák sogar noch unter Zugzwang, denn mit der Gruppe um den slowakischen Hardliner Vasiľ Biľak lauerten bereits Rivalen aus den eigenen Reihen auf einen Fehler der Husák-Männer, um selbst an die Macht zu kommen. Nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstranten war der Widerstand in der Bevölkerung für längere Zeit gebrochen, bedeutet Bárta:

21. August 1989  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Zu partiellen Protesten kam es noch im Herbst 1969, doch dies waren lediglich Aktionen Einzelner oder von kleinen, unbedeutenden Gruppen. Auch die Aktivitäten der späteren Bürgerrechtsbewegung Charta 77 bewegten sich in ähnlicher Größenordnung, bei ihnen traten ebenfalls nur gewisse Gruppen von Bürgern in Erscheinung. Zu Massenprotesten wie im Jahr 1969 kam es erst wieder gegen Ende der 1980er Jahre.“

Genauer gesagt in den Jahren 1988 und 1989. Denn beginnend mit dem 20. Jahrestag der Okkupation des Landes am 21. August 1988 erinnerten sich die Bürger der Tschechoslowakei wieder daran, dass sie eigentlich schon einmal für ihre demokratischen Rechte und Freiheiten eingetreten waren. Zur Demonstration am runden Jahrestag fanden sich 10.000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz ein.

Die Reihe der Proteste setzte sich fort im Oktober 1988 aus Anlass des 70. Jahrestages der Republikgründung und fand einen ersten Höhepunkt in der sogenannten Palach-Woche im Januar 1989. Da schritten bereits wieder Polizisten mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern gegen die Demonstranten ein. Die nächste Gelegenheit zu Protesten sollte der 21. Jahrestag der Besetzung der Tschechoslowakei im Jahr 1989 sein. Doch ein Großteil der Dissidenten gab der Diplomatie den Vorzug und reagierte so auch auf die Warnung des Kommunistenführers in der Hauptstadt Prag, Miroslav Štěpán. Dieser hatte angekündigt, gegen Protestierende auch Schusswaffen einsetzen zu wollen. Dennoch versammelten sich am Vorabend des 21. August auf dem Wenzelsplatz und dessen Umgebung über 1000 Menschen. Zur Unterstützung der Opposition im Land waren zudem Aktivisten aus Ungarn, Polen, Italien sowie Ost- und Westdeutschland angereist. Diese Tatsache nahm der von den Kommunisten auf Linie gebrachte Tschechoslowakische Rundfunk zum Anlass, um entsprechende Stellungnahmen auszustrahlen. In einer davon sagte Kommentator Zdeněk Tomáš unter anderem:

Bárta: „Bei den Aktivitäten der späteren Bürgerrechtsbewegung Charta 77 traten ebenfalls nur gewisse Gruppen von Bürgern in Erscheinung. Zu Massenprotesten wie im Jahr 1969 kam es erst wieder gegen Ende der 1980er Jahre.“

„Und so wurde Prag am vergangenen Wochenende von einer ungewöhnlich hohen Zahl an ausländischen Besuchern überschwemmt. Während sich sonst in den Augusttagen bis zu 8000 Italiener in Prag aufhalten, kamen diesmal am Samstag und Sonntag noch weitere 1000 Anhänger einer radikalen italienischen Partei hinzu. Einer Partei, die auf provozierende Methoden und auf Demonstrationen in sozialistischen Ländern setzt.“

Genauso ungehalten reagierte der Rundfunkredakteur auf die Vertreter der polnischen Solidarnosc und der ungarischen Fidesz, die ihren Reformwind nun auch in das befreundete Nachbarland hineintragen wollten. Doch das passte den damaligen Machthabern ganz und gar nicht. Deshalb endete Kommentator Tomáš dann auch mit diesen Worten:

Charta 77  (Foto: ČT24)
„Die ausländischen Anhänger der Charta 77 und ihre Gleichgesinnten haben eines vergessen: Die Mehrzahl der redlichen Leute bei uns lehnt ihre Ratschläge ab. Deswegen ist der Versuch, den Jahrestag der August-Ereignisse von 1968 zu missbrauchen, auf den entschiedenen Widerstand aller gestoßen, die in Ruhe arbeiten und sich am Programm des Umbaus beteiligen wollen.“

Wie der echte Umbau von einem Unrechtsregime zu einem demokratischen Rechtsstaat auszusehen hat, das haben die Bürger der Tschechoslowakei dann nur drei Monate später entschieden. Mit der sogenannten Samtenen Revolution leiteten sie im Herbst 1989 die politische Wende ein. Heute sind Tschechien und die Slowakei zwei souveräne Staaten, die in der EU und in der Nato verankert sind.