Das wechselhafte Gesicht des Exils in der Tschechoslowakei

Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit

Als die Deutschen kamen, um Schutz zu finden, nahm die Tschechoslowakei sie bereitwillig auf. Das war sofort nach der Machtergreifung Hitlers 1933 zu spüren. Ja sogar die Staatspräsidenten T.G. Masaryk und Edvard Beneš spendeten damals für die Flüchtlinge aus dem Nachbarland. Doch nicht alle, die im Lauf der 30er Jahre aus ihrer deutschen Heimat fliehen mussten, kamen in demselben Maß in den Genuss wohlwollender Haltung. Und für die Flüchtlinge aus Österreich ab 1938 sah die Lage bereits völlig anders aus. Dies haben zwei tschechische Historiker bei ihren Forschungen zum wechselhaften Gesicht des Exils in der Tschechoslowakei herausgefunden.

Der Schriftsteller Thomas Mann war sicher der bekannteste deutsche Emigrant, der sich in den 30er Jahren in Böhmen für eine Zeit niederließ. Aber auch die politischen Spitzen der SPD oder der Kommunistischen Partei wie etwa Walter Ulbricht gehörten dazu. Viele von ihnen fanden lobende Worte für das Land, das sie in der Emigration aufnahm. Wie zum Beispiel die deutschen Sozialdemokraten:

„Es muss hervorgehoben werden, dass sich das Verhalten der Tschechoslowakischen Republik von dem Verhalten der Regierungen anderer Nachbarländer Deutschlands vorteilhaft unterschied. Das gilt vor allem für die Schweiz und die Niederlande, die sich auf den Standpunkt stellen, dass jede politische Tätigkeit der Emigranten zu unterbinden sei, weil sie die Beziehungen zu dem großen und mächtigen Nachbarn störe“, so das Fazit der SPD-Parteiführung, als sie im Mai 1938 die Tschechoslowakei verlassen musste.

Zu diesem Zeitpunkt war das Land in der Mitte Europas nicht mehr der sichere Zufluchtsort, wie noch fünf Jahre zuvor nach Machtergreifung und Reichstagsbrand. Für viele Flüchtlinge aus Deutschland und ab 1934 – nach der Errichtung des faschistischen Ständestaates –aus Österreich war die Tschechoslowakei aber auch schon vorher keine sichere Zuflucht. Dies betrifft die große Masse der Flüchtlinge, die die Forschung bisher meist links liegen ließ, während sie sich auf die Spitzen aus Kunst und Politik konzentriert hat.

„Der Unterschied war wirklich groß – insbesondere zwischen der Elite, der sozialdemokratischen Parteiführung, und den durchschnittlichen politischen Flüchtlingen, die Deutschland häufig verlassen haben, nachdem sie aus dem Konzentrationslager frei gekommen waren. Sie mussten dann in der Tschechoslowakei unter sehr demütigenden Lebensbedingungen vegetieren“, sagt Kateřina Čápková, die zusammen mit ihrem Kollegen Michal Frankl zu dem Thema geforscht hat.

War man nicht privilegiert, meldete man sich zwar auch bei einem der vier Hilfskomitees, kam dann aber dann in eines der Lager, in denen bis zu 100 Menschen häufig mehr hausten als wohnten. Der Anteil dieser Flüchtlinge an der Gesamtzahl stieg im Laufe der Jahre von anfänglich 50 auf 90 Prozent. Den schwersten Stand inmitten dieses Fußvolkes hatten jedoch Juden, die der rassistischen Verfolgung entkommen wollten. Kateřina Čápková:

„Da das Innenministerium sehr daran interessiert war, diese jüdischen Flüchtlinge weiterzuleiten, bekamen sie nur mit Problemen Aufenthaltsgenehmigungen - oder unter der Bedingung, dass sie bald weiterreisen werden.“

Michal Frankl
Ab 1935 verschlechterte sich zudem die rechtliche Stellung der jüdischen Flüchtlinge in der Tschechoslowakei. Dies setzte mit dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze in Deutschland ein, die aus Juden Bürger zweiter Klasse machten. In der Tschechoslowakei galten Juden nun häufig als Wirtschaftsflüchtlinge – mit Folgen, wie aus den Erinnerungen Betroffener zu lesen ist:

„Die Polizei stellte sich auf den Standpunkt, dass keine Emigranten aufgenommen werden, die nur Wirtschaftsprobleme haben. Die Tschechoslowakei gab weder Arbeitserlaubnis noch Unterstützung und verwies die Wirtschaftsemigranten darauf, sich von Deutschland unterstützen zu lassen. Ferner wurden keine Flüchtlinge anerkannt, die gegen bestehende Gesetze verstoßen hatten. Das galt auch für Verstöße gegen die Rassengesetze.“

So steht es in den Erinnerungen von Käthe Frankenthal. Sie war unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers aus Berlin geflohen war und arbeitete ab 1936 im Jüdischen Hilfskomitee in Prag. Über die Folgen für die jüdischen Flüchtlinge schreibt sie:

„Es waren nicht nur Hunderte illegal in Prag, die ganz verelendet waren und sehr oft kriminell wurden. Die Unterstützung, die die privaten Komitees gaben, war so gering, dass auch die Unterstützten leicht auf Abwege kamen. Die Unterstützung betrug etwa ein Drittel dessen, was ein Mensch bei den allerbescheidensten Ansprüchen zum Leben braucht.“

Unter diesen Umständen blieben nur wenige Flüchtlinge im Land, die Fluktuation war sehr hoch. Zwar hat die Tschechoslowakei in den sechs Jahren zwischen 1933 und 1939 insgesamt 20.000 Menschen aus Deutschland oder Österreich beherbergt. Doch nie waren es mehr als 1500 bis 2000 gleichzeitig. Käthe Frankenthal im Übrigen erhielt Ende der Dreißiger Jahre rechtzeitig ein Visum für die Vereinigten Staaten, wohin sie emigrierte und wo sie auch bis zu ihrem Tod 1976 lebte.

Ganz anders das Schicksal vieler österreichischer Bürger: Als Hitler am 11. März 1938 Österreich besetzt, kommt es in der Tschechoslowakei zu einer plötzlichen Änderung der Flüchtlingspolitik.

„Die Änderung war so radikal, dass innerhalb von Stunden, als die Nachricht bekannt wurde, die deutsche Armee habe die Grenze von Österreich übertreten, einfach die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich für österreichische Staatsbürger gesperrt wurde. Diese blitzschnelle Reaktion war für alle überraschend“, so Čápková.

Das Münchner Abkommen 1938 | Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R69173/Wikimedia Commons,  CC BY-SA 1.0
Und kein anderes Nachbarland Österreichs ahmt diese Reaktion nach. Die Schweiz zum Beispiel schließt ihre Grenze erst zwei Monate später - im Mai. Die Folgen lassen sich ausmalen. Bekannt ist das Schicksal des letzten Schnellzugs, der in der Nacht des 11. März aus dem noch freien Wien startet. In ihm sitzen rund 200 meist oppositionelle österreichische Politiker. Mehrfach wird der Zug von Hitler-freundlichen Gruppen überfallen, kann aber die Grenze passieren und hält dann auf dem Bahnhof im Grenzort Břeclav / Lundenburg.

„Alle hofften, dass sie nun frei sind, aber ihnen wurde befohlen auszusteigen und alle österreichischen Staatsbürger mussten mit dem nächsten Zug nach Wien zurückfahren. Viele wurden dort gleich von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager nach Dachau geschickt“, beschreibt Kateřina Čápková das Schicksal der Zug-Reisenden.

Weil die tschechoslowakische Polizei rigoros vorging, wählten viele weitere Österreicher den illegalen Grenzübertritt über die grüne Grenze. Auch hier waren Juden wieder in einer besonders verzweifelten Lage. Die Gestapo trieb sie in den ersten Wochen und Monaten regelrecht vor sich her, Österreich sollte „judenrein“ werden, wie der Befehl der Nazis lautete. Doch an der Grenze zur Tschechoslowakei wurden die jüdischen Flüchtlinge wieder abgewiesen. Anfang Juli 1938 berichtete das Jüdische Hilfskomitee im südmährischen Brno / Brünn über das Geschehen:

März 1939
„Die tschechoslowakischen Grenzorgane gehen so vor, dass sie die in die ČSR kommenden Emigranten nicht die Grenze überschreiten lassen und sie von der Grenze zurückschieben, so dass oft solche Emigranten stundenlang in den Wäldern, oft im Sumpfgebiet herumirren und oft dreimal von tschechoslowakischen und österreichischen Grenzorganen auf der Grenze hin- und hergejagt werden, oft auf der einen oder anderen Seite verhaftet werden, bis es ihnen gelingt, nach größeren Entbehrungen und Strapazen, oft zermürbt und halb ausgehungert, sich auf tschechoslowakischen Boden durchzuschlagen, wo ihnen wieder Verhaftung droht.“

Hinter der harten Haltung standen zu dem Zeitpunkt politische Ängste. Die Tschechoslowaken konnten sich ausrechnen, dass sie die nächsten Opfer Hitlers würden. Kateřina Čápková:

„Es lässt sich feststellen, dass die tschechoslowakische Gesellschaft zu dem Zeitpunkt kein Mitleid mit diesen Flüchtlingen hatte. Der Anschluss Österreichs war für die tschechoslowakische Bevölkerung ein Zeichen, dass die Bedrohung des eigenen Landes bereits sehr hoch ist, und man sah eher die eigenen Probleme.“

Wie vielen Österreichern dennoch der Weg in die Tschechoslowakei gelang, lässt sich nur schätzen. Laut den Protokollen über die Polizeiverhöre waren es etwa 1500 bis 2000 Menschen, es könnten aber laut Kateřina Čápková auch mehr gewesen sein, weil nicht alle verhört wurden. Das Innenministerium registrierte zugleich etwa 10.000 erfolglose Versuche, über die Grenze zu gelangen. Da es manche Menschen mehrfach probierten, dürfte die Zahl der Abgewiesenen aber unter dem Wert gelegen haben. Es waren aber wohl mehrere Tausend, die nicht die Chance auf das ersehnte Exil erhalten haben - und das noch vor dem Einmarsch der Wehrmacht in die so genannte Rest-Tschechei am 15. März 1939.

Protektorát Čechy a Morava - Protektorat Böhmen und Mähren
Was ist nun das Fazit? Viele Menschen fanden in der Tschechoslowakei Zuflucht vor den Nazis. Für einige bedeutete das zweifellos die Rettung. Doch die Vorstellung von einer besonders großzügigen Flüchtlingspolitik der Tschechoslowakei lässt sich nicht aufrechterhalten, wie Kateřina Čápková und Michal Frankl urteilen. Ihre Ergebnisse werden sie demnächst auch in einem gemeinsamen Buch veröffentlichen. Zwei Hauptthesen streicht Kateřina Čápková dabei heraus:

„Die Tschechoslowakei wollte wie die Schweiz, Holland und andere europäische Länder nur Transitland sein. Das zum einen. Zum Zweiten haben wir Ähnlichkeiten darin gefunden, dass sich die Flüchtlingspolitik mit der Zeit geändert hat und immer restriktiver wurde, wie in den anderen europäischen Staaten auch. Und das fand dann eben 1938 beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und angesichts der Welle der österreichischen Flüchtlinge seinen Höhepunkt.“

Autor: Till Janzer
schlüsselwort:
abspielen