Die Geschichte der Charta 77 (Teil 1)

Vaclav Havel und Pavel Landovsky auf einem Konzert der ´Plastic People of the Universe´

Vor dreißig Jahren wurde die Charta 77 gegründet. Dieser Name bezeichnet sowohl die im Januar 1977 in der Tschechoslowakei verfasste Petition als auch die mit ihr verbundene Bürgerrechtsbewegung. Der am 6. Januar 1977 herausgegebene Text machte auf die Nichteinhaltung der Menschenrechte in der kommunistischen Tschechoslowakei in der Zeit der so genannten Normalisierung aufmerksam. Zu den ersten Unterzeichnern gehörten bekannte Persönlichkeiten wie der Dramatiker und spätere tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel. Andreas Wiedemann beschäftigt sich in unserem heutigen Geschichtskapitel mit den Anfängen der Bürgerrechtsbewegung Charta 77.

Am Anfang standen die "Plastic People of the Universe". Die Rock-Gruppe war nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gegründet worden und bildete einen wichtigen Anziehungspunkt für eine staatsunabhängige Kulturszene in der kommunistischen Tschechoslowakei. Die Gruppe hatte mehrere alternative Musikfestivals organisiert. Im Februar 1976 wurden die Musiker während eines Konzertes verhaftet und ihre Fans verhört. Der Prozess, den das Regime im September 1976 gegen die Bandmitglieder führte, rief nationalen und internationalen Protest hervor. Dazu Vaclav Havel, der der erste Sprecher der Charta war:

"Der Prozess hat schon damals die Aufmerksamkeit der Medien erregt. Hier liegt irgendwo der Ursprung der Charta, weil von diesem Prozess ganz verschiedene Gruppen aus der Bevölkerung betroffen waren."

Die Solidarität mit den Musikern war einer der Auslöser zur Gründung der Charta 77. In der Gründungsdeklaration forderten die 242 Erstunterzeichner die Einhaltung der Menschenrechte in der Tschechoslowakei und bezogen sich dabei auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki, die vom damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Gustav Husak unterschrieben worden war. Im März 1976 traten die Vereinbarungen über die Menschen- und Bürgerrechte in der Tschechoslowakei offiziell in Kraft. Die Proklamation der Charta 77 berief sich auf diese gültigen Gesetze und forderte lediglich, dass die tschechoslowakische Regierung die von ihr unterzeichneten Verträge auch einhält.

Die Charta bezeichnet sich in ihrem Gründungsdokument nicht als "Basis für oppositionelle politische Tätigkeit". Dort heißt es: "Die Charta ´77 ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine organisatorisch bedingte Mitgliedschaft. Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ihrer Arbeit teilnimmt und sie unterstützt. Sie will dem Gemeininteresse dienen, wie viele ähnliche Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens."

Wie in einem Krimi verlief der Anfang der Geschichte der Charta 77: Als der Dramatiker Vaclav Havel, der Schriftsteller Ludvik Vaculik und der Schauspieler Pavel Landovsky die Charta-Proklamation zur tschechoslowakischen Föderalversammlung, dem damaligen Parlament, bringen wollten, wurden sie von der Polizei observiert und nach einer Verfolgungsjagd durch den Prager Stadtteil Dejvice festgenommen. Das Regime konnte aber nicht verhindert, dass die Charta an die Öffentlichkeit gelangte. Am 6. Januar 1977 veröffentlichte die französische Tageszeitung "Le Monde" die Proklamation der Charta. Weitere Zeitungen im westlichen Ausland, wie die "Times" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", folgten. In der Tschechoslowakei wurde der Text in den Massenmedien nicht veröffentlicht.

Obwohl sich die Bürgerrechtler in ihren Formulierungen bewusst zurückgehalten hatten, reagierte die Staatsführung mit Diskriminierungen und harter Repression. Sie startete direkte Gegenkampagnen, in denen die Charta-Unterzeichner verleumdet und als Landesverräter dargestellt wurden. Am 12. Januar 1977 erschien in der Tageszeitung "Rude Pravo", dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei, unter der Überschrift "Schiffbrüchige und Selbsterwählte" ein Artikel, in dem die Unterzeichner der Charta als "verkrachte Existenzen der tschechoslowakischen reaktionären Bourgeoisie" bezeichnet wurden, die auf "Bestellung antikommunistischer und zionistischer Zentralen" das Dokument westlichen Agenturen überreicht hätten. Die kommunistische Führung bemühte sich, eine ihr genehme Öffentlichkeit zu schaffen. Im Tschechoslowakischen Rundfunk wurde zum Beispiel folgendes gesendet:

"Mit einer Lawine von Resolutionen, die von unseren Arbeitenden verfasst wurden, protestieren sie gegen die Verleumdungen und Angriffe der Autoren der so genannten Charta 77. Verurteilungen ihrer Taten kommen zu uns aus allen Teilen der Republik, aus den Betrieben, den landwirtschaftlichen Genossenschaften, den Hochschulen und aus allen Organisationen der Nationalen Front."

Viele bekannte Künstler unterzeichneten auf einer Versammlung im Prager Nationaltheater im Jannuar 1977 eine so genannte Anticharta. Der Staat reagierte aber auch mit direkten Repressionen. Bereits Mitte Januar wurden die drei führenden Organisatoren der Charta 77, Vaclav Havel, Ludvik Vaculik und Pavel Landovsky, erneut verhaftet. Andere wurden Tag für Tag, über Wochen hinweg verhört. Ein Sprecher der Charta, der Philosoph Jan Patocka, starb am 13. März 1977 nach einem elfstündigen Verhör durch den Staatssicherheitsdienst.

Jedes Jahr wurden drei Unterzeichner der Charta zu Sprechern gewählt, die die Charta nach außen repräsentierten. Die Bewegung war insgesamt sehr heterogen. Ihr gehörten Menschen an, die nie Mitglied der kommunistischen Partei gewesen waren, aber auch frühere Kommunisten, wie zum Beispiel Zdenek Mlynar, der 1968 Sekretär des ZK der kommunistischen Partei gewesen war. Zur Gruppe zählten auch Angehörige verschiedener Glaubensgemeinschaften sowie Atheisten. Vaclav Havel erklärt, was die Menschen aus ganz verschiedenen Richtungen in der Charta zusammengebracht hat:

"Das waren wahrscheinlich einerseits die gemeinsame Bedrohung, die gemeinsame Gegnerschaft und die gemeinsamen Sorgen. Andererseits ist die Charta hauptsächlich auf den Prinzipien der Humanität, der Solidarität und der Zusammenarbeit gegründet. Das war der Boden, auf dem sich Menschen mit ganz verschiedenen Meinungen treffen konnten,", so Havel.

Dana Nemcova, eine ehemalige Sprecherin der Charta, beschreibt die Gemeinsamkeiten der Chartisten so:

"Die Ideen, die hinter der Charta standen haben uns verbunden: Die Notwendigkeit, in der Wahrheit zu leben und die Rechte einzufordern, auf die die Bürger einen Anspruch haben."

Die Heterogenität der Unterstützer war nach Ansicht des Historikers Petr Blazek aber auch eine der Schwächen der Bewegung:

"Zum Beispiel konnte nie ein Dokument entstehen zur Rolle der kommunistischen Partei und über die Verbrechen des Systems. Die Charta war gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner, eine Grundlage", sagt Petr Blazek.

Die Charta 77 unterschrieben am Anfang 242 Menschen. Bereits im Sommer 1977 war die Zahl der Unterzeichner auf 600 angewachsen. Insgesamt wurden es bis zum Ende des Kommunismus fast 1900. Auf diese Weise wurde die Charta 77 wurde zur Plattform für die Menschenrechtsbewegung in der Tschechoslowakei.

Zwischen 1977-1989 veröffentlichte sie 572 Dokumente und Informationen. Diese thematisierten die Menschenrechtssituation im Lande, nahmen zu konkreten Rechtsverstößen staatlicher Organe Stellung, informierten über die Lage der Kirchen und Religionsgemeinschaften und über allgemeinere Themen wie den Frieden und den Umweltschutz, über philosophische Fragen und die Geschichtsschreibung.

Das war in unserem Geschichtskapitel der erste Teil über die Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Den zweiten Teil hören Sie am 27. Januar.