Gehörlosenbund feiert 150 Jahre

Foto: Tschechisches Fernsehen
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebten die Böhmischen Länder einen vielseitigen Aufschwung. Tschechen und Deutschen gründeten jeweils kulturelle, politische und wirtschaftliche Vereine und Verbände, die Zivilgesellschaft formierte sich. Auch behinderte Menschen wollten nicht zurückstehen. 1868 riefen zwei engagierte Männer den ersten böhmischen Verein der Gehörlosen ins Leben.

Karel Redlich  (Foto: Archiv des Zentrums für körperlich Behinderte in Liberec)
Bildungsinstitutionen für Gehörlose haben in Böhmen eine lange Geschichte. Bereits am 7. Dezember 1786 wurde für sie in Prag die erste Schule gegründet. Anlass dazu gab Kaiser Josef II., der die Anstalt bei einem Besuch in Prag persönlich eröffnete. Zu Beginn waren dort sechs Zöglinge untergebracht. Der erste Direktor war Pater Karl Berger, er hatte seine Unterrichtsmethode an der Anstalt für Gehörlose in Wien gelernt.

Unterrichtet wurden vor allem das Schreiben und das Ablesen der gesprochenen Sprache. Obwohl die Prager Schule relativ klein blieb, nahm die Zahl der Absolventen nach und nach zu. Einige von ihnen zogen auch in andere Städte des Landes. 1868 kam daher die Idee auf, einen Förderverein für Gehörlose zu gründen. Karel Redlich ist Sozialarbeiter beim Zentrum für körperlich Behinderte in Liberec / Reichenberg und hat sich mit diesem Thema befasst:

Prager Schule für Gehörlose
„Der Förderverein wollte ein Netzwerk von ehemaligen Absolventen der Prager Schule bilden. Dadurch sollte den Interessen von Gehörlosen Ausdruck verliehen werden, vor allem ging es um eine staatliche Finanzierung ihrer Ausbildung. Dies gelang aber nur teilweise. Ansonsten konzentrierte sich der Förderverein darauf, den Mitgliedern bei der Suche nach einer Erwerbstätigkeit zu helfen, Bedürftige zu unterstützen und Möglichkeiten zur Begegnung zu schaffen. Wichtig war auch das kulturelle Leben – der Förderverein organisierte also Bälle, Theatervorstellungen, Tanzabende, Ausflüge und Reisen."

Erfahrungen aus Wien und Berlin

Wenzel Frost  (Foto: Public Domain)
Der Förderverein für Taubstumme stand von Anfang an sowohl für tschechische als auch für deutsche Gehörlose offen. Um seine Gründung haben sich zwei Männer verdient gemacht: Wenzel Frost und Josef Wilczek (tschechisch: Vlček). Frost, der selbst hören konnte, war Direktor der Schule in Prag. Wilczek war einer seiner Schüler und wurde später selbst Lehrer.

Frost besuchte die Fördervereine für Gehörlose in Berlin und Wien, wobei ihn Wilczek jeweils begleitete. Ihre Erkenntnisse nutzten sie dann bei der Gründung ihres eigenen Verbandes. Wenzel Frost war einer der bedeutendsten Pädagogen seiner Zeit, meint Redlich.

„Er wurde in Nosálov in Mittelböhmen geboren. Zunächst studierte er Philosophie in Prag und war dann am Priesterseminar in Litoměřice. Obwohl seine Muttersprache Deutsch war, beherrschte er auch perfekt Tschechisch. Nach seiner Priesterweihe war er in der mittelböhmischen Gemeinde Mšeno tätig. Dabei lernte er einige gehörlose Kinder kennen und begann, sich um sie zu kümmern. Da er erfolgreich war in seiner Arbeit, wurde die Anstalt für Gehörlose in Prag auf ihn aufmerksam. 1840 wurde er als Lehrer dorthin berufen, und ein Jahr später übernahm er die Leitung der Schule. Er entwickelte eine neue Ausbildungsmethode, die bald so populär in Europa war, dass man sie als ‚böhmische‘ Methode bezeichnete."

Frosts Lehrbuch
Frosts Methode bestand in der konsequenten Weiterentwicklung der Gebärdensprache, die damals unterschätzt wurde. Dabei hatten Gehörlose diese selbst schon in früheren Zeiten erfunden. Der Priester betonte, dass die Gebärdensprache eigentlich allen Menschen irgendwie vertraut und für Gehörlose das wichtigste Kommunikationsmittel sei. Er erstellte erstmals feste Regeln für die Sprache, die er in einem Buch für die breite Öffentlichkeit erklärte.

Diese Herangehensweise widersprach der damaligen Überzeugung. Dieser nach sollten Gehörlose vor allem lernen, von den Lippen zu lesen und die Wörter richtig auszusprechen. Man wollte die Gehörlosen einfach in die Gesellschaft eingliedern. Frost erkannte jedoch, dass diese Menschen beides können müssen: sich mit ihrer hörenden Umgebung zu verständigen und auch miteinander zu kommunizieren. Die „böhmische“ Methode von Wenzel Frost wurde von vielen Schulen in Europa übernommen. Für seinen Einsatz in diesem Bereich wurde er mit dem Goldenen Verdienstkreuz mit Krone ausgezeichnet, also mit dem höchsten Orden der k. u k. Monarchie damals. Nach dem Tod von Wenzel Frost im Jahr 1865 wurde seine Methode aber erneut in Frage gestellt.

„1880 fand in Mailand ein großer internationaler Kongress statt, an dem die Lehrer entschieden, die Gebärdensprache komplett aufzugeben. Als Grund wurde angeführt, dass diese Sprache die Schüler zu sehr im Unterricht belasten würde und sie davon abhalte zu sprechen. Die Gebärdensprache wurde als primitives Kommunikationsmittel empfunden, das ‚modernen Unterrichtsmethoden‘ widerspreche. Die einzige Ausnahme blieb die Anstalt für Gehörlose in Prag. Dort wurde wegen der Beliebtheit von Wenzel Frost und dank des Einsatzes seiner Nachfolger ohne Unterbrechung in der Gebärdenspreche weiterunterrichtet. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Sprache schrittweise wiederentdeckt. In vielen Ländern wurden aber bestimmte Gebärden neu erschaffen. Die tschechische Sprache enthält hingegen viele alte Zeichen, die immer noch verwendet werden“, so Karel Redlich.

Zur Erklärung: Die Gebärdensprache hat je nach Ländern viele Varianten, die Unterschiede sind allerdings eher gering. Gehörlose aus aller Welt können sich daher problemlos untereinander verständigen.

Verfechter der Gebärdensprache

Doch zurück zu Wenzel Frost: Er engagierte sich nicht nur für Gehörlose, sondern war auch schriftstellerisch tätig. So verfasste er auf Tschechisch und Deutsch die Abhandlung „Der Mensch im Symbole – Ein Spiegel für jeden, dem daran liegt, Mensch zu Seyn“. Der kleine Band erschien als 2010 als Reprint. Frost spricht sich darin für den Humanismus aus und für christliche Nächstenliebe. Im Revolutionsjahr 1848 wurde der Pädagoge als Abgeordneter in den Wiener Reichstag gewählt. Karel Redlich:

„Mir ist sympathisch, dass Frost in der Zeit aufkommender nationaler Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen als Vermittler zwischen beiden Seiten auftrat. Er forderte seine deutschen Landsleute dazu auf, mehr Verständnis für die legitimen Ansprüche der tschechischsprachigen Böhmen zu zeigen. In diesem Sinne erschien auch in der Zeitung ‚Národní listy‘ ein Nachruf über ihn nach seinem Tod im Jahr 1865. Unter den Tschechen erfreute er sich großer Anerkennung.“

Der Prager Förderverein für Taubstumme war von 1868 bis 1918 der einzige seiner Art in den Böhmischen Ländern. Erst nach der Gründung der Tschechoslowakei entstanden auch in anderen Städten des Landes vergleichbare Zusammenschlüsse. Als erstes geschah dies in České Budějovice / Budweis. Der Verein in der südböhmischen Stadt wurde nach dem dortigen Bischof „Jirsík“ genannt, der Geistliche hatte dort eine Schule für Gehörlose gegründet. Allerdings setzte sich während der Ersten Republik bis 1938 das nationale Prinzip durch. Das heißt, nicht nur Tschechen hatten ihre eigenen Vereine, sondern auch Deutsche und Juden. Erst das kommunistische Regime führte alle diese Organisationen wieder unter einem Dach zusammen, dies geschah allerdings unter anderen politischen Vorgaben. Heute organisieren sich die Gehörlosen wieder selbständig.