Tücken der Genealogie: Der unauffindbare Hübner

Brüder Klein von Wiesenberg

Familienforschungen grenzen manchmal an kriminalistische Kleinarbeit. Nicht immer laufen sie so reibungslos, wie man es sich wünscht. An der sogenannten „Causa Hübner“ zeigen wir einige der Probleme bei den Recherchen. Nicht selten können sie sogar die mühsame Arbeit ins Leere laufen lassen.

Brüder Klein von Wiesenberg
Die Suche nach den Vorfahren entspringt meist der Neugier und dem Wunsch, mehr über die eigenen Wurzeln zu erfahren. Manchmal gibt es aber auch ganz praktische Gründe. Stefan Scholz ist Historiker an der Karlsuniversität in Prag. Er selbst hat bereits für mehrere sudetendeutsche Kunden über die böhmischen Wurzeln ihrer Familien recherchiert. Allerdings haben sich nicht die Nachkommen selbst an ihn gewandt, sondern jeweils der Nachlassverwalter:

„Wenn jemand in Deutschland kinderlos oder ohne Geschwister stirbt, kann das Erbe nicht einfach dem Staat übergeben werden. Der Staat sagt: ‚Moment, wir wollen wegen Restitutionsansprüchen genau wissen, ob es wirklich keine lebenden Nachfahren gibt‘.“

Erbe ohne Erben

Jindřichov  (Foto: Ladin,  CC BY-SA 3.0)
Und das soll dann der beauftragte Genealoge herausfinden. Stefan Scholz beschreibt seinen Fall:

„Es ging um eine Gertraud Hübner. Die Frau war allerdings zu jenem Zeitpunkt, als ich den Auftrag bekam, nicht mehr am Leben. Sie hinterließ aber eine sehr große Erbschaft, über 800.000 Euro.“

Gertraud Hübner starb vor rund 15 Jahren in Hamburg. Sie war die einzige Tochter von Karl Ludwig Hübner, der am 20. Mai 1897 in Jindřichov / Hennersdorf in Mährisch-Schlesien geboren wurde.

„Beauftragt hat mich der Nachlassverwalter aus Hamburg. Das ist etwas untypisch, weil die meisten Sudetendeutschen nach Österreich und nach Bayern gegangen sind. Aber manche Familien sind wirklich sehr weit weggezogen, so gibt es eine kleine sudetendeutsche Gemeinde in Hamburg. Nachdem diese Dame ohne Erben in erster und zweiter Ordnung verstorben war – das heißt, sie hatte keine Kinder und keine Geschwister –, hat das Gericht eine Erbensuche in dritter Ordnung angeordnet. Das bedeutet, es ging um Nachfahren der Geschwister des Großvaters der Erblasserin.“

Gertruds Vater hieß Karl Ludwig Hübner. Seine Geburt ist im Taufbuch von Jindřichov festgehalten. Nun musste aber sein Vater, also Getruds Großvater, Karl Boromäus Hübner, aufgespürt werden.

„Es ging um die Frage, hatte dieser Karl Boromäus Hübner wirklich nur einen Sohn, den Vater der Erblasserin, Karl Hübner?“

Im Taufeintrag zu Karl Ludwig steht, dass sein Vater ein „Kleinscher Rechnungsführer“ war. Zunächst wurde ein tschechischer Genealoge mit der Suche beauftragt. Er scheiterte aber.

„Kleinscher Rechnungsführer“

Grab der Familie Klein in Sobotín  (Foto: Martin Vavřík,  Public Domain)
„Dem tschechischen Genealogen war nicht klar, was eigentlich das Possessivsuffix -sch bedeutet. Anhand des Taufeintrags ‚Kleinscher Rechnungsführer‘ geriet er auf eine falsche Spur und suchte die ganze Zeit nach einem Baron Kleinscher. In Wirklichkeit ging es um die Familie Klein Wiesenberg.“

Stefan Scholz sah sich dann den Taufeintrag an und stellte fest, dass Karl Boromäus Rechnungsführer war bei der Firma Klein Wiesenberg.

„Klein Wiesenberg war der erste große mährische Industriekonzern, gleich in den 1850er Jahren. Erst danach kam Ringhofer und begann, den Markt in der Stahlindustrie zu dominieren. Klein Wiesenberg hat jedoch die Semmeringbahn gebaut.“

Das Sprachproblem wurde also erfolgreich gelöst. Doch bald tauchte ein weiteres Hindernis auf: die Migration. Eigentlich lebten die meisten Familien im 19. Jahrhundert noch über Generationen hinweg in ein und derselben Gemeinde. Ihre Mitglieder zogen nur selten in andere Regionen um. Die Tauf-, Heirats- und Todeseintragungen der Familienmitglieder lassen sich daher in den Kirchenbüchern einer einzigen Pfarrgemeinde häufig jahrzehnte- und jahrhundertelang zurückverfolgen. Aber:

„Jetzt sind wir bei einem großen Problem. Es gab damals Berufsgruppen, die migrationsbetroffen waren. Sie wurden einfach von ihrem Beruf her immer wieder dienstlich versetzt. Wir wissen, dass dies Eisenbahner, Soldaten, aber auch Rechnungsführer waren.“

Eben das war auch das Schicksal von Karl Boromäus Hübner.

„Der Konzern Klein Wiesenberg war gigantisch: die Zentrale in Wien, Praterstraße 42, Kohlewerke in Nordmähren, Eisenwerke in Sobotín, Steinbrüche in Dalmatien, Bergbauunternehmen in Siebenbürgen. Es gab Dutzende Betriebsniederlassungen, verstreut auf das ganze heutige Mitteleuropa. Das Problem war, dass es in diesen Betriebsniederlassungen immer wieder zu Betrügereien kam, also zur Unterschlagung von Betriebsvermögen. Karl Boromäus Hübner wurde als Rechnungsprüfer im Halbjahresrhythmus immer wieder versetzt und musste diese Betrügereien aufdecken.“

Unterwegs in Europa

Illustrationsfoto: kropekk_pl,  Pixabay / CC0
Hübner wanderte also durch ganz Europa. 1891 heiratete er in Kärnten eine Bauerntochter. Laut den Quellen soll erst sechs Jahre später sein erster Sohn auf die Welt gekommen sein. Es war der uns bekannte Karl Ludwig. Seine Geburt ist durch einen Taufeintrag vom 20. Mai 1897 in der Pfarrgemeinde von Jindřichov belegt. Was geschah aber zwischen der Heirat und dieser Geburt? Ist es möglich, dass in der Ehe sechs Jahre lang kein Kind zur Welt kam? Und wohin führte der weitere Weg des Prokuristen und seiner Familie? Laut Stefan Scholz war es fast unmöglich, dies zu durchleuchten:

„Ich habe festgestellt, dass Karl Boromäus schon wenige Wochen nach der Geburt von Karl Ludwig wieder verschwand. Spurlos. Wir haben nicht feststellen können wohin. Wir wussten nur, dass es in gesamt Mitteleuropa wahrscheinlich 50 oder 70 Pfarrgemeinden gibt, in denen man suchen müsste. Das heißt, einfach in allen Betriebsniederlassungen der Firma Klein Wiesenberg der damaligen Zeit. Das war aber undenkbar, selbst wenn er zur Zentrale nach Wien zurückgekehrt ist. Die Firma Klein Wiesenberg hatte Dutzende Zinshäuser in allen möglichen Wiener Bezirken. Und in der Zwei-Millionen-Stadt gab es damals zwanzig Pfarrgemeinden. Daher sagte das Gericht in Hamburg, dass man dafür mindestens 50 Genealogen anstellen müsste. Und selbst angesichts der 800.000 Euro war das Gericht gegen weitere Nachforschungen.“

Die Spurensuche endete also negativ. Die Forscher scheiterten damit an einem generellen Problem der Genealogie:

„Wenn man in Familien forscht, die sich sehr schnell bewegt haben, über sehr große Entfernungen, dann kommt man einfach nur sehr schwer weiter. Denn man darf nicht vergessen: Die Eintragungen in den Kirchenbüchern und in den staatlichen Tauf-, Heirats- und Sterbebüchern sind Momentaufnahmen. Die Beamten hat damals nicht interessiert, wo man vorher gewohnt hat, sie konnten auch nicht wissen, wo man dann hingeht. Das ist das große Problem.“

Soldaten, Eisenbahner und Prokuristen

Stefan Scholz gab die Suche dennoch nicht auf. Und der Historiker entdeckte zumindest eine weitere Spur. So fand er heraus, wann Boromäus Hübner in die schlesische Gemeinde Jindřichov kam:

„Ich konnte dann feststellen, mit einer irrsinnig aufwendigen Recherche, dass dieser Hübner im Archiv der Pensionsversicherungsanstalt der Firma Klein Wiesenberg eingetragen wurde. Nach drei Tagen Recherche auf mehreren Tausend Seiten Kurrentschrift bin ich auf ein ganz unscheinbares Papier gestoßen. Und da war ein Eintrag vom Dezember 1896, durch den dieser Hübner plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Er ließ sich damals in die Pensionsversicherungsanstalt eintragen. Das heißt, wir wussten nur, dass er kurz vor Weihnachten 1896 gekommen war und seine Frau da schon schwanger war mit diesem kleinen Karl Ludwig. Dann stellte er sechs Monate lang in diesem Gutsbezirk Jindřichov, in dem offenbar irgendwelche Betrügereien gelaufen waren, seine Nachforschungen an, kontrollierte die Rechnungsführung und verschwand wieder.“

Soweit also die „Causa Hübner“. Der Fall musste ohne Ergebnis abgeschlossen werden. Das Erbe fiel damit dem deutschen Staat zu, weil keine Erben ausfindig gemacht werden konnten.

„Damit lässt sich eine Sache gut demonstrieren: Alle Genealogen, die am Anfang voller Euphorie sagen, sie wollten die Wurzeln ihrer Familie bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen, müssen aufpassen müssen. Wenn sie in ihrer Familie Eisenbahner, Soldaten oder Prokuristen haben, dann werden sie sehr schnell verzweifeln und irgendwann einfach nicht weiter kommen.“


In der nächsten Folge unserer Serie zur Ahnenforschung sucht eine Tochter von Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat in der damaligen Tschechoslowakei verlassen mussten, nach ihren Wurzeln.