„Die Wahrhaftigkeit ist das Wichtigste“

Andreas Horvath (Foto: Markéta Kachlíková)

Der österreichische Regisseur Andreas Horvath hat mit „Lillian“ bereits bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes für Aufsehen gesorgt. Nun hat er sein Road-Movie- auch beim Festival in Karlovy Vary / Karlsbad vorgestellt. Ein Gespräch mit ihm über eine lange Wanderungen durch Nordamerika und die Wahrhaftigkeit beim Dokumentarfilm.

Film „Lillian“  (Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Andreas Horvath  (Foto: Markéta Kachlíková)
Herr Horvath, Sie spielen beim Filmfestival in Karlsbad eine doppelte Rolle. Sie sind nicht nur Jurymitglied im Wettbewerb der Dokumentarfilme, sondern haben auch ihren jüngsten Film in Karlsbad vorgestellt. Worum geht es in Ihrem Streifen „Lillian“?

„Er basiert auf einer wahren Begebenheit, von der ich vor 15 Jahren gehört habe. Seit ich von dieser Geschichte erfahren habe, möchte ich den Film machen. In den 1920er Jahren lebte in New York die Russin Lillian Alling. Wir haben für unseren Film aber nur den Vornamen behalten. Lillian ist eines Tages aufgebrochen, um zu Fuß über die Beringstraße nach Russland zurückzukehren. Nur durch Zufall ist sie von Waldarbeitern in British Columbia gefunden worden. Sie wollte nicht sehr viel sprechen, denn sie konnte nicht sehr gut Englisch. Damals hat es zwei Artikel in Lokalzeitungen über sie gegeben. Das ist alles, was wir über sie wissen. Sie ist dann verschwunden, das letzte Mal wurde sie in Dawson City gesehen. Der Rest sind Gerüchte. Zum Beispiel, dass sie mit einem Boot versucht hat, den Yukon River hinunter zu segeln. Man weiß eigentlich nicht, wo sie gelandet ist, und ob sie es geschafft hat, die Beringstraße zu überqueren.“

Film „Lillian“
Wie ist daraus aber ein Film geworden?

„Die Geschichte hat mich von vornherein fasziniert. Es gibt mittlerweile eine Oper und mehrere Bücher über Lillian. Das sind fiktionale Werke, aber auch eine Journalistin hat sehr viel über die wahre Lillian Alling recherchieren können. Ich wollte von Anfang an jedoch nur den Kern der Geschichte behalten und sie ins Heute transferieren. Es sollte Roadmovie werden, dessen Ausgang für mich selbst unklar ist. Ich wusste, dass ich kein Drehbuch haben würde. Ich ahnte also nicht, wo und wie wir enden, und welche Szenen wir bekommen würden.“

„Für mich war es nicht wichtig, Lillians richtige Geschichte zu erzählen oder ihre Motive zu beleuchten. Warum sie das gemacht hat, wird in dem Film ja gar nicht thematisiert. Das wissen wir aber auch nicht, wir könnten ohnehin nur raten.“

Das heißt, dass der Film erst während der Dreharbeiten entstanden ist?

„Ja, so ist es. Wir hatten ein sehr kleines Team, maximal fünf Personen. Oft waren wir aber nur zu zweit. Das heißt, ich war oft alleine mit der Darstellerin. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, welche Route wir nehmen würden. Das ist klar. Wir hatten sieben Drehblöcke zu je zwei Wochen. Dazwischen habe ich recherchiert und für den nächsten Drehblock Settings und Leute gesucht. Wir hatten gar keine Schauspieler. Auch die Hauptdarstellerin Patrycja Płanik ist eigentlich keine Schauspielerin. Es ist also ein Film, der eigentlich nur mit Laien gemacht ist.“

Nicht nur für eine Frau dürfte diese Route damals abenteuerlich gewesen sein, sondern auch für Sie während dem Dreh. Sind Sie Lillians wahrscheinlicher Originalroute gefolgt?

„Wir sind ein bisschen länger in den USA geblieben. Die richtige Lillian ist früher nach Kanada gekommen. Im mittleren Westen des Landes gibt es aber nicht viel, das uns Europäern etwas sagt. Wenn ich von New York einfach nur Richtung Westen gehe, dann kommen die Great Lakes, der Mississippi und schließlich der Missouri. Mit dem Yukon zusammen, sind das die drei größten Flüsse in Nordamerika, die Lillian überqueren muss. Da war für mich der Wiedererkennungswert größer. Da gibt es den Mount Rushmore und die Badlands. Es war für mich auch nicht wichtig, Lillians richtige Geschichte zu erzählen oder ihre Motive zu beleuchten. Warum sie das gemacht hat, wird in dem Film ja gar nicht thematisiert. Das wissen wir aber auch nicht, wir könnten ohnehin nur raten.“

Sie haben die Geschichte dann ja auch in die heutige Zeit verlegt…

„Ja, ich wollte nicht die 1920er Jahre wiederauferstehen lassen. Der Film ist sehr dokumentarisch gedreht. Deshalb war es mir auch wichtig, das derzeitige Amerika zu zeigen.“

Sie sagen, der Film sei dokumentarisch gedreht. Bisher haben Sie vor allem Dokumentationen gemacht. Was war der größte Unterschied, jetzt, wo Sie sich an einen Spielfilm gewagt haben?

„Eigentlich übernimmt jeder Protagonist in einem Dokumentarfilm auch eine Rolle. Die Grenzen verschwimmen. Meine Streifen sind auch keine klassischen Dokumentarfilme.“

„Ich glaube, der größte Unterschied waren das Team und die Größe des Projektes. Ich bin es eigentlich nicht gewohnt im Team zu arbeiten. Auf einmal hatte ich eine Assistentin und einen Tontechniker. Eine Darstellerin hatte ich in dem Sinne ja auch zum ersten Mal. Wobei eigentlich jeder Protagonist in Dokumentarfilmen auch eine Rolle übernimmt. Die Grenzen verschwimmen. Meine Streifen sind auch keine klassischen Dokumentarfilme. In meinem letzten Film ‚Helmut Berger‘ spielt sich Helmut Berger auch selbst. Ich glaube, der Unterschied war einfach die Größe des Projekts. Auch der Umfang: Wir haben neun Monate in Nordamerika gedreht und sechs Wochen in Tschukotka in Sibirien. Das sind schon sehr lange Drehzeiten.“

Film „Lillian“
Sie sagen, Sie haben ein Team gehabt. Aber trotzdem stehen Sie im Abspann als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann. Ist es für Sie wichtig, alles selbst zu machen?

„Ich denke, es ist wichtig für mich, alles in der Hand zu haben. Ich habe meine Arbeit als Fotograf begonnen. Anstatt verbal festzulegen, wie ich mir etwas vorstelle, gehe ich lieber den Weg, es selbst mit der Kamera festzuhalten. Mit der Musik ist es vielleicht ähnlich. Es war nicht von vornherein klar, dass ich sie mache, aber mein Cutter hat teilweise Musik für Szenen verwendet, die mir nicht gefallen hat. Also hab ich Skizzen angefertigt und darin erklärt, wie es im Film eher klingen sollte. Das wurde immer mehr und plötzlich haben wir dann gemerkt: ‚Ja das ist eigentlich schon die Musik für den Film‘. Ich denke aber nicht, dass es ein Fehler ist, wenn alles aus einer Hand kommt. Es wird dadurch eher persönlicher. Es ist dann tatsächlich meine Vision von der Geschichte.“

„Lillian ist meine Vision, und das muss auch bei einem Dokumentarfilm der Fall sein. Das sollte auch jedem klar sein, wenn er einen Dokumentarfilm sieht: Es ist eine völlig subjektive Sache.“

Sie sitzen beim Filmfestival in der Jury des Wettbewerbs für Dokumentarfilme. Gibt es Ihrer Meinung nach ein besonderes Kriterium, damit ein Streifen gut ist?

„Wahrhaftigkeit. Damit meine ich die Wahrhaftigkeit, die der Filmemacher oder die Filmemacherin sich selbst gegenüber hat und beibehält. Also nicht unbedingt dem Thema gegenüber, sondern, dass man sich selbst treu bleibt. So wie ich sage, dass ‚Lillian‘ meine Vision ist, muss das auch bei einem Dokumentarfilm der Fall sein. Das sollte auch jedem klar sein, wenn er einen Dokumentarfilm sieht: Es ist eine völlig subjektive Sache. Man spürt glaube ich, wenn sich der Filmemacher selbst treu geblieben ist. Deshalb ist das besonders wichtig.“

Spielt das auch bei der Beurteilung der Filme im Wettbewerb die entscheidende Rolle?

Film „Lillian“
„Ja, es ist ein sehr wichtiges Kriterium. Ich schätze aber auch den Austausch mit meinen Jurykollegen. Das ist ein Prozess, bei dem man sehr viel lernt, zum Beispiel von den anderen Sichtweisen, den anderen Herangehensweisen an Filme. Es ist ein sehr interessanter Austausch.“

Wie ist ihre Beziehung zu dem Festival in Karlsbad? Sie sind nicht zum ersten Mal hier, sondern haben 2006 schon mit einem ihrer Filme einen Preis gewonnen…

„Danach war ich in der Jury für ‚East of the West‘. Ich bin dann nochmal mit einigen Filmen wieder hier gewesen. Mittlerweile bin ich auch sehr gut mit dem Programmleiter Karel Och befreundet. Ich schätze das Festival sehr. Die Stadt ist fantastisch. Es ist immer ein Geschenk für mich, hier sein zu können.“