Aus Sarajevo nach Prag – Der Arzt Edo Jaganjac über Medizin im Krieg

Edo Jaganjac (Foto: Annette Kraus)

Am 5. April 1992 – vor genau 24 Jahren – begann die Belagerung von Sarajevo im Bosnien-Krieg. In den folgenden vier Jahren fielen ihr etwa 11.000 Menschen zum Opfer, 56.000 wurden verletzt. Edo Jaganjac war damals mittendrin – als Chirurg in einem Krankenhaus. Bekannt wurde er im Sommer 1993, als er den Fall der fünfjährigen Irma Hadžimuratović an die Öffentlichkeit brachte. Vergeblich versuchte der Arzt eine Evakuierung des schwerverletzten Mädchens durch die UNO zu erreichen. Erst als er ausländische Journalisten einschaltete, wurde Irma nach Großbritannien ausgeflogen. In der Folge wurden hunderte Verletzte aus Sarajevo evakuiert. Nun hat Edo Jaganjac ein Buch über die „Operation Irma“ veröffentlicht. Ein Gespräch an seinem heutigen Arbeitsort im Prager Klinikum Motol.

Foto: Verlag Galerie Gema
Herr Jaganjac, Sie leben inzwischen seit über 20 Jahren in Prag. Im vergangenen Jahr haben Sie das Buch „Die Prinzessin von Sarajevo“ veröffentlicht, und Irma ein Denkmal gesetzt. Das Buch sorgte in Ihrer alten wie auch in der neuen Heimat für Aufsehen. Woher kam die Entscheidung, die Geschehnisse aufzuschreiben?

„Das Buch habe ich schon vor 20 Jahren geschrieben. Es ist jetzt erst erschienen, nachdem es mehr oder weniger zufällig entdeckt wurde. Man hat mich eine Weile überredet, es zu veröffentlichen – und nun ist es da.“



Edo Jaganjac  (Foto: Annette Kraus)
Haben Sie das Buch bereits nach ihrer Emigration nach Prag geschrieben?

„Ja, ich bin am 1. September 1993 nach Prag gekommen – also während des Krieges. Der Krieg begann in Bosnien im April 1992, in Kroatien schon 1991. Ich hatte aber niemals vor, dieses Buch zu veröffentlichen. Es war eher eine Selbsttherapie, es aufzuschreiben. Indem man über das Geschehene nachdenkt, in eine gewisse Form gießt und in einen Zusammenhang stellt, kann man sich ein wenig helfen.“

Vor über 20 Jahren waren Sie Chirurg im Krankenhaus "Vojna bolnica" im einkesselten Sarajevo. Unter welchen Umständen haben Sie Irma zum ersten Mal gesehen?

“Als ich Irma zum ersten Mal sah, hatten wir die Nase bereits voll – vom Blut und vom Tod. Wir hatten es satt, dass wir nichts tun konnten.“

„Ich habe sie zum ersten Mal gesehen, da lag sie verletzt auf einer Trage. Zu der Zeit hatten wir die Nase bereits gestrichen voll – vom Blut und vom Tod. Wir hatten es satt, dass wir nichts tun konnten. Aber was blieb uns übrig? Wir konnten uns aufrichten oder uns hinlegen und sterben. Und sterben, das wollten wir natürlich nicht.“

Unter welchen Bedingungen haben Sie damals gearbeitet?

„Ich glaube, niemand, der nicht dort war, kann das verstehen. Denn wenn ich sage, dass es keinen Strom gab, dann klingt das schlimm, aber man versteht nicht, was es bedeutet. In erster Linie brauchten wir den Strom für den Operationssaal und die Wundversorgung. Wir hatten ein kleines Aggregat, es benötigte zwei Liter Benzin pro Stunde. Auch Wasser gab es nicht. Wir trugen kleine Fläschchen mit Chlor bei uns. In jedes Wasserglas musste man zunächst ein paar Prisen Chlor geben. Um die Patienten am Leben zu halten, mussten wir Infusionen herstellen – wir verwendeten dafür alte Flaschen. Medikamente haben wir von der Weltgesundheitsorganisation WHO bekommen. Dann stellen Sie sich ein Krankenhaus mit 14 Stockwerken vor, von denen 12 Stockwerke ausgebombt sind. Wir konnten nur in den beiden unteren Stockwerken arbeiten, die hinter einem kleineren Gebäude verborgen waren. Granaten fallen direkt vom Himmel, vertikal, sie sind sehr gefährlich, überall sind sie damals eingeschlagen. Das Krankenhaus war völlig zerstört.“

Weshalb war es ausgerechnet Irma, die als erste aus diesem Inferno ins Ausland ausgeflogen wurde?

„Nach einer schweren Verletzung hat sie Meningitis bekommen. Die drei Antibiotika, die es damals in Sarajevo gab, reichten nicht für sie, es gab kein CT, kein Labor. Als ich den Journalisten angerufen habe und er Irma zum ersten Mal sah, dachte er, ich lüge. Denn sie war fröhlich und hat gelacht. Er konnte nicht glauben, dass sie binnen einer Woche sterben würde. Als er am nächsten Tag wiederkam und den Unterschied sah, begann er zu weinen – und die Sache nahm ihren Lauf. Dagegen hat die Weltflüchtlingsorganisation UNHCR, die an der Spitze der Ärztemission Medevac stand, keinen Finger gerührt. Auch das Rote Kreuz, die WHO, die Kinderhilfsorganisation Unicef und die Militärstreitkräfte Umprofor gehörten zur Medevac, große Namen, Weltorganisationen, doch der ganze unerträgliche, inhumane Zustand war ihnen egal. Einige Angestellte haben mir selbst geraten, die Medien einzuschalten – dies sei die einzige Chance für Irma. Es blieben nur fünf oder sechs Tage, und es ist nicht einfach, Journalisten auf ein Thema zu bringen. Geholfen hat uns, dass August war – das Sommerloch. Auf einmal war Irma überall, in den Zeitungen, im Fernsehen. Einen Tag, bevor sie ausgeflogen wurde, wurde ich ins Fernsehgebäude geholt, ich gab den Sendern Interviews. Als Irma in London ankam, warteten dort Menschen mit Flaggen in der Hand. Als sie aus dem Koma erwachte, sah sie, dass ihr Zimmer voller Spielsachen war, die ihr Kinder aus England und aller Welt geschickt hatten.“

Great Olmond Street Hospital in London  (Foto: Nigel Cox,  CC BY-SA 2.0)
Wer war bei ihr? Irmas Mutter war bei dem Angriff gestorben.

„Der Vater und die jüngere Schwester, die etwa eineinhalb Jahre alt war.“

Wie ist Irma damit umgegangen? Ein kleines Mädchen, schwerverletzt in einem fremden Land?

„Als Irma abflog, lag sie schon im Koma, sie hat nichts mitbekommen. Vor zwei Jahren habe ich mit ihrem Vater gesprochen. Nach der Operation sagten sie ihm, dass Irma gelähmt bleiben würde. Sie lebte noch eineinhalb Jahre, war die ganze Zeit im Krankenhaus. Ihr Vater fuhr mit ihr in den Park beim Krankenhaus, es war das Great Olmond Street Hospital in London, angeblich das beste Kinderkrankenhaus der Welt.“

„Nach Irmas Evakuierung öffneten sich auf einmal die Tore – man hat begriffen, unter welchen Bedingungen wir in Sarajevo die Verletzten behandeln müssen.“

Irma hat nicht überlebt – aber die Aktion hat vielen anderen Verletzten geholfen, die in der Folge aus Sarajevo ausgeflogen wurden…

„Ihr Vater hat mir einmal geschrieben, dass das Schicksal seine Tochter geopfert habe, um andere Menschen zu retten. Denn danach öffneten sich auf einmal die Tore, man hat begriffen, unter welchen Bedingungen wir in Sarajevo die Verletzten behandeln müssen. Innerhalb von zwei Wochen kamen über 700 Angebote aus dem Ausland. Ich glaube, wir haben sie nicht einmal ganz ausgenutzt.“

Sie kritisieren damals wie heute sehr scharf die Untätigkeit der internationalen Hilfsorganisationen im Angesicht des belagerten Sarajevo. Gab es darauf Reaktionen?

„Nein. Sie hatten Angst. Die einzige Reaktion war, dass sie mir angeboten haben, aus Sarajevo wegzugehen. Sie wollten mich gerne loswerden, und ich bin auch gerne weggegangen, denn ich hatte die Nase voll.“

“Europa? Ich weiß nicht mehr, das das sein soll. Europa hat keine Werte mehr.“

Denken Sie, dass sich insgesamt etwas geändert hat? Hat man aus den Jugoslawien-Kriegen gelernt?

„Ich habe das Gefühl, das Gleiche könnte morgen wieder geschehen. Auch wenn man glaubt, in Europa sei es nicht möglich – es ist möglich. Ich dachte auch, in Jugoslawien könne so etwas nicht geschehen, Jugoslawien war auch Europa. Jetzt haben wir kein Jugoslawien mehr und auch kein Europa. Ich weiß gar nicht mehr, was das sein soll – Europa. Europa hat keine Werte mehr und auch nicht die Anziehungskraft, die es einmal hatte. Manchmal schäme ich mich für die Dinge, die manche Politiker heute sagen.“

Jugoslawischer Reisepass  (Foto: Raso mk,  CC BY-SA 3.0)
Warum sind Sie 1993 ausgerechnet nach Prag gegangen?

„Das ist ganz einfach. Es gab damals keine solche Flüchtlingswelle wie heute, aber es gab auch Mittel, um Einwanderung zu verhindern – das waren Pässe und Visa. Jugoslawische Staatsbürger benötigten vor dem Krieg kein Visum für die anderen europäischen Länder. Doch als der Krieg begann, brauchten wir auf einmal für alle Länder Visa – nur nicht für die Tschechische Republik. Das Land führte die Visumpflicht ein, drei Monate nachdem ich hier angekommen war. Dank dieser Tatsache bin ich hier.“

Heute scheint in Tschechien große Angst vor Flüchtlingen zu herrschen. Haben Sie sich damals hier willkommen gefühlt?

„Ja, das habe ich. Es war ganz anders. Aber wissen Sie, damals hat Radovan Karadžić behauptet, dass in Sarajevo Islamisten leben, die die Serben terrorisieren würden. Er hat uns abertausende Granaten geschickt. Ich wurde als moslemischer Fundamentalist beschuldigt, das ist wirklich vollkommen paradox. Ich denke, dass sich Tschechien heute nicht vor Flüchtlingen fürchtet. Doch es gibt hier keine Moslems, und im Fernsehen zu sehen sind die Morde in Paris. Die Menschen glauben, dass Moslems zuhause im Ziegenstall verschleierte Frauen haben und mit Bomben herumlaufen, dass die Kinder kleine Teufel sind, die für den Islamischen Staat kämpfen wollen. Das ist natürlich alles Unsinn. Ich glaube nicht, dass die tschechische Nation so denkt, sondern eher, dass es von oben kommt, aus der Politik. Ich habe wirklich Angst, dass diese Hysterie missbraucht wird, um wieder strengere, nicht-europäische Maßnahmen einzuführen. Wir wissen, wie sich nach dem 11. September der Flugverkehr verändert hat. Ich weiß nicht, was kommt, aber für mich ähnelt die Welt immer mehr der Vorstellung von Orwell. Ich hoffe, dass es Leute gibt, die dagegen kämpfen. Freiheit ist etwas, das geschützt werden muss.“

„Für mich ähnelt die Welt immer mehr der Vorstellung von Orwell. Ich hoffe, es gibt Menschen, die dagegen kämpfen.“

Fühlen Sie sich heute in Tschechien zu Hause, sind Sie ein Prager?

„Ich bin jetzt schon 23 Jahre hier. Wir Jugoslawen haben in Prag einen Verein namens Vlaštovka – Vlastavice. Das heißt Rauchschwalbe. Die Rauchschwalbe ist an zwei Orten daheim, im Süden und im Norden. Bei uns ist es genauso. Wenn ich nach Sarajevo fahre – da lebt noch meine Mutter – ,dann fahre ich nach Hause. Und wenn ich nach Prag zurückkomme, dann fahre ich auch nach Hause. Ich bin an zwei Orten daheim.“


Edo Jaganjacs Buch „Die Prinzessin von Sarajevo“ (Sarajevská princezna) ist auf Serbokroatisch und Tschechisch erhältlich. Übersetzungen ins Englische und Deutsche sind in Vorbereitung.