Aus eigenen Augen: Geschichte der Juden in böhmischen Ländern

Foto: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht

Ein Autorenteam hat viele Jahre lang an einer zusammenfassenden Geschichte jüdischen Lebens in den böhmischen Ländern gearbeitet. Das über 400 Seiten dicke Buch ist nun auf Deutsch erschienen. Es schlägt einen Bogen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Insgesamt neun Wissenschaftler aus fünf Ländern haben für das Handbuch geforscht, der Titel lautet: „Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern“. Diese Woche wurde das Werk an der deutschen Botschaft in Prag vorgestellt. Dabei entstand folgendes Interview mit der Historikerin Martina Niedhammer vom Collegium Carolinum, die die deutsche Ausgabe betreut hat, und der tschechischen Geschichtswissenschaftlerin Kateřina Čapková, die als Herausgeberin verantwortlich ist.

Foto: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Frau Niedhammer, Frau Čapková, die neue Veröffentlichung gibt einen Überblick über die Geschichte des jüdischen Lebens in den böhmischen Ländern. Was ist besonders oder neu an dem Buch?

Niedhammer: „An dem Buch ist manches inhaltlich neu, aber vor allem das Format hat es so noch nicht gegeben. Wir versuchen sowohl ein Fachpublikum anzusprechen, als auch ein breiteres Auditorium. Das lässt sich etwa daran erkennen, dass sehr reich bebildert wurde. Wir haben dort 70 Illustrationen und arbeiten auch stark mit Karten, die dem Leser zugleich einen Eindruck des Inhalts geben. Am Ende des Buches gibt es einen kleinen Essay zu ausgewählten Orten. Damit lässt sich sogar Familien- und Heimatforschern ein gewisser Zugang zur jüdischen Geschichte in den böhmischen Ländern vermitteln. Und, wie gesagt, das Buch hat auch einige neue thematische Aspekte und arbeitet mit Quellen, die sonst eher weniger berücksichtigt werden.“

Čapková: „Uns war es wichtig, Quellen zu benutzen, die von Juden oder manchmal auch für Juden verfasst wurden. Dazu kommen besonders im letzten Kapitel (zum jüdischen Leben in der Tschechoslowakei und in Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg, Anm. d. Red.), dass wir Interviews mit Juden geführt haben. Damit soll abgebildet werden, wie vielschichtig und bunt jüdische Gesellschaft in Böhmen und Mähren war und ist.“

Martina Niedhammer  (Foto: Archiv Collegium Carolinum)
Was waren denn die wichtigsten Fragestellungen bei der Bearbeitung des Themas?

Niedhammer: „Eine große Rolle spielt, wie böhmische und mährische Juden sich selbst sahen – also die Frage nach der regionalen Identität, weg von einer Stereotypisierungen als deutsche oder tschechische Juden, sondern mit einer eigenen Ausprägung. Ebenso wichtig sind Begegnungen zwischen Juden und Nicht-Juden. Die wollten wir genau betrachten, um Vielschichtigkeit aufzuzeigen.“

Čapková: „Vor allem sollte nicht die Außensicht auf die Juden gezeigt werden, sondern ihre eigene Perspektive auf sich. Deswegen haben wir im Unterschied zum sehr dominanten Narrativ anderer Publikationen nicht so sehr die Politik gegenüber Juden verfolgt, sondern eher wie sich die jüdische Geschichte in der inneren Dynamik entwickelt hat – also in religiösen Bewegungen oder kulturellen Strömungen.“

Gab es durch die Arbeit interessante neue Erkenntnisse?

Holocaust  (Foto: Public Domain)
Čapková: „Man sollte vielleicht betonen, dass das Buch sehr von den Forschungsprojekten der einzelnen Autoren profitiert hat. Das war für uns auch von großer Bedeutung bei der Auswahl der Wissenschaftler, die zum Buch beitragen sollten. Sie sind jeweils Spezialisten für bestimmte Epochen oder Regionen und beschäftigen sich mit ihrem Thema teils seit vielen Jahren oder über Jahrzehnte hinweg. Dadurch wurde der aktuelle Forschungsstand eingefangen. Im Kapitel über den Holocaust sind wir zum Beispiel sehr froh, dass Benjamin Frommer uns schon jetzt die ersten Ergebnisse seines Projektes über die Kriegsjahre angeboten hat. Seine neuesten Erkenntnisse werden eigentlich erst im kommenden Jahr in einem englischen Buch publiziert.“

Im Titel kommt auch Mikulov beziehungsweise Nikolsburg vor, warum diese Stadt?

Niedhammer: „Das Buch möchte nicht nur Prag ins Zentrum zu rücken, sondern zeigen, dass es zu unterschiedlicher Zeit jeweils andere wichtige Orte jüdischen Lebens in den böhmischen Ländern gab. Da lag es nahe, nicht nur mit Prag auf einen böhmischen Ort zu referieren, sondern auch auf einen mährischen. Und Nikolsburg / Mikulov war über viele Jahrhunderte hinweg ein wichtiges religiöses Zentrum. Es zeigt auch durch seine Nähe zu Wien auf wichtige Migrationsströme, die dort in Mähren sehr anders verlaufen sind als in Prag. Brünn wird erst im 19. Jahrhundert als jüdische Gemeinde von Bedeutung, deswegen konnten wir diese Stadt in dem Fall nicht nennen.“

Kateřina Čapková  (Foto: Archiv des Instituts für das Studium totalitärer Regimes)
Das Buch soll nicht nur auf Deutsch erscheinen, sondern auch in anderen Sprachen. Wie weit sind da die Arbeiten vorangeschritten?

Čapková: „Es ist eher paradox, dass die deutsche Übersetzung nun noch vor der englischen Originalfassung herausgegeben wurde. Darum verdient gemacht hat sich vor allem Martina Niedhammer, die im Collegium Carolinum sehr intensiv an der deutschen Ausgabe gearbeitet hat. Wir sind ihr sehr dankbar für die professionelle und detaillierte Bearbeitung des Textes. Die englische Originalausgabe erscheint erst zu Ende dieses Jahres, und zwar in der University of Pennsylvania Press. Die tschechische und die hebräische Ausgabe kommen dann nächstes Jahr heraus.“

Autor: Till Janzer
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