Botschaftsflüchtlinge 1989: Tschechoslowakei hat Ultimatum gestellt

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Am 30. September 1989 verkündete der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag mehreren Tausend DDR-Flüchtlingen, dass ihre Ausreise in die Bundesrepublik möglich geworden war. Genau 25 Jahre danach trafen etwa 150 ehemalige Flüchtlinge wieder mit Genscher und weiteren deutschen Politikern in Prag zusammen. Zeitzeugen- und Historikerdebatten ergänzten das Programm

Tilo Beutmann mit Hans-Dietrich Genscher und seiner Ehefrau Barbara  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die Feier in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag war eine Gelegenheit zum Erinnern und zum Danken. Tilo Beutmann ist vor 25 Jahren aus Plauen in Prag angekommen. Nun hat er sich persönlich beim damaligen Bundesaußenminister Genscher bedankt.

TB: „Das ist das erste Treffen, was ich seit der Flucht erlebt habe. Wobei das Treffen damals sehr distanziert war. Mir war es heute wirklich ein Anliegen, ihm zu danken, für die damalige Leistung und den Einsatz, den er für die Flüchtlinge gebracht hat. Natürlich viele andere auch noch, aber er war ja doch einer der Hauptakteure.“

Tilo Beutmann war damals 23 Jahre alt. Die Flucht hat er nicht lange geplant:

Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag  (Foto: Gerald Schubert)
TB: „Das war ein spontaner Moment. Ich hatte vor, über Ungarn zu fliehen. Ich hatte da ein Visum beantragt, das allerdings abgelehnt wurde. Dann, am Samstag habe ich diese Ablehnung mit der Post bekommen und am Abend gesehen, wie die Leute hier in die Botschaft einsteigen und dass es immer mehr werden. Wir konnten ja die Nachrichten von ARD oder ZDF damals empfangen. Ich habe mich dann spontan entschieden, so schnell wie möglich das gleiche hier zu versuchen und hier einzusteigen. Ich habe einen Freund angesprochen, ob er mich fahren würde, er hat zugesagt, und dann sind wir am Montag in der Früh losgefahren. Ich hab mir nicht gleich getraut, in die Botschaft einzusteigen, ich bin erst mal den Zaun entlang gegangen. Man hat mich von innen angesprochen, ob ich in die Botschaft möchte. Ich habe ja gesagt, und dann ging eigentlich alles ganz schnell. Kabeltrommel rauf, rüberziehen und ich war drin.“

Botschaftsflüchtlinge 1989  (Foto: YouTube)
Für Marion Enders war die Ausreise ein Ergebnis langjähriger Überlegungen und Pläne. Obwohl sie eine Familie hatte, stieg sie allein in den Zug nach Prag:

ME: „Ich bin damals alleine ausgereist. Ich hatte in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt. Und den hatten auch meine Kinder gestellt. Sie waren damals schon volljährig. Ich war geschieden, und wir haben zu dritt diesen Antrag gestellt. Dann haben wir uns entschlossen, dass ich diesen schwierigen und vielleicht auch gefährlichen Weg für mich alleine gehe, um dann zu versuchen, die Kinder nachzuholen. Das war eine schwere Entscheidung, aber eine Entscheidung, die bei mir persönlich über viele Jahre gereift ist. Es war kein spontaner Entschluss, sondern ich wusste aus der Geschichte heraus, was meine Eltern und Großeltern erlebt haben, und wie es für mich in der Zukunft aussehen sollte. Einer musste diesen Kreis durchbrechen.“

Foto: ZDF
Tilo Beutmann hat fünf Tage auf dem Gelände der Botschaft in Prag verbracht. Die Aufnahme in die Botschaft bedeutete für ihn noch keine Erleichterung:

TB: „Nein. Bis zum Zeitpunkt der Zusage der Ausreise war eine riesige Ungewissheit da. Man hat nicht gewusst, wie sich das ganze entwickelt.“

Doch der Weg nach Westdeutschland führte nicht direkt über die böhmisch-bayerische Grenze. Dresden – Karl-Marx-Stadt – Plauen – Reichenbach. Die Züge mussten noch einmal durch das DDR-Gebiet fahren:

Botschaftsflüchtlinge 1989 im Zug  (Foto: ZDF)
TB: „Das war ein wirklich bewegender Moment. Auch ein von Angst geprägter Moment. Ich bin noch mal an meinem Haus vorbei gefahren, an meiner Wohnung, wo ich gewohnt habe, da die Bahngleise direkt dahinter vorbeiliefen. Ich habe auch das Fenster meiner Eltern gesehen. Es stand zwar offen, aber zu dem Zeitpunkt hat keiner herausrausgeschaut. Das war schon mehr als bewegend. Wie gesagt, die Angst hat schon mitgespielt. Vor allem in Reichenbach, wo die Ausweise einkassiert wurden, war es sehr bewegend.“

Berliner Mauer  (Foto: Lear 21,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
ME: „Ich war innerlich selbst fest entschlossen, nur den Weg in die Bundesrepublik Deutschland anzutreten. Ich habe mich sicher gefühlt, Ängste waren trotzdem immer vorhanden. Es war sehr wichtig, dass das Botschaftspersonal uns im Zug begleitet hat. Das hat sehr viel an Sicherheit gegeben und an Ängsten genommen.“

Der erste Zug fuhr in der Nacht zum 1. Oktober nach Westdeutschland. Es war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands. Nur einen Monat später fiel die Berliner Mauer.

ME: „Das hätte ich zu dem Zeitpunkt, als ich hier war, niemals geglaubt. So wie viele andere auch nicht. Die Geschichte hat sich mal zum Guten entwickelt.“


Soweit die Erinnerungen einiger Botschaftsflüchtlinge an den Spätsommer vor 25 Jahren. „Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989“ ist der Titel eines Buches, das anlässlich der Feier am 30. September präsentiert wurde. Sein Autor ist der Politikwissenschaftler am Hannah-Arend-Institut in Dresden, Karel Vodička. Auf Grundlage von Geheimdienstdokumenten und der diplomatischen Korrespondenz zwischen BRD, DDR und ČSSR zeigt er unbekannte Zusammenhänge der historischen Ereignisse in den beiden kommunistischen Ländern. In wieweit haben die Ereignisse rund um die Prager Botschaft den Zusammenbruch des tschechoslowakischen Regimes beeinflusst? Nicht nur darüber habe ich mit ihm gesprochen.

Herr Vodička, Sie sind Autor einer Studie über die Flüchtlinge des Jahres 1989, die hier anlässlich der Feierlichkeiten gerade vorgestellt wurde. Wie betrachten Sie die damaligen Geschehnisse auf der Botschaft? Waren sie eine deutsche Angelegenheit, oder war auch die Tschechoslowakei eingebunden? Welche Rolle hat die Tschechoslowakei in der Entwicklung gespielt?

Karel Vodička  (Foto: Archiv ČSSD)
„Beides. Es war eine deutsche Geschichte, aber Prag war nicht nur ein Spielort der deutschen Geschichte, sondern auch ein Akteur in dieser Geschichte. Von Prag aus kamen ganz wesentliche Impulse. Gerade als die wichtigsten Entscheidungen anstanden, hat der Einfluss aus Prag entscheidend dazu beigetragen, dass der Beschluss in diese Richtung gefallen ist. Ein besonderer Impuls war gestern vor 25 Jahren, also am 29. September 1989. Da hat das SED-Politbüro beschlossen, die Botschaftsflüchtlinge in den Westen zu entlassen. Und an dieser Entscheidung waren die tschechoslowakischen Partei- und Staatsorgane wesentlich beteiligt.“

Welche waren die Beweggründe der tschechoslowakischen Führung, sich auf der deutschen Seite für die Ausreise der Flüchtlinge einzusetzen? Wahrscheinlich stand nicht das Wohl der Flüchtigen im Vordergrund?

Foto: ZDF
„Es war eine prekäre Lage in der Botschaft. Es waren hier in der Botschaft 5000 Kinder, Frauen und Männer. Es war praktisch sicher, dass wegen der hygienischen Verhältnisse eine Epidemie kommt, ein Flächenbrand war sehr wahrscheinlich. Das hätte eine negative mediale Präsenz der Tschechoslowakei zur Folge gehabt, und zwar weltweit. Das war eine Sorge. Außerdem wünschte man sich vielleicht auch aus menschlicher Sicht keine humanitäre Katastrophe. Aber das wichtigste, was für die Parteiführung entscheidend war – es wird auch in den Geheimdokumenten deutlich – sie hatte Angst, solche Ereignisse würden einen Impuls zu einer Massendemonstration hier geben. Man befürchtete, dass die Demonstrationen das Regime hierzulande destabilisieren könnten. Die Befürchtung wurde auch der SED-Parteiführung deutlich gemacht. Da hat auch Honecker gesagt, ja, dafür haben wir Verständnis. In diesem Zusammenhang hat die tschechoslowakische Partei- und Staatsführung durch verschiedene Kanäle Druck auf die DDR ausgeübt.“

Milouš Jakeš und Erich Hocker in einer zeitgenössischen Zeitung
In welchem Sinne?

„Die historische Kulisse: Wir sind in der chinesischen Botschaft in Prag, dort findet ein feierlicher Empfang zum vierzigsten Jahrestag der Volksrepublik China. Es werden fieberhafte Gespräche zwischen der tschechoslowakischen Parteiführung – Jakeš, Lenárt, Štěpán – und dem DDR-Botschafter Ziebart geführt. Die Tschechen haben ein Ultimatum gestellt: Ihr müsst die Anzahl der Flüchtlinge durch die Ausreise über das DDR-Gebiet in die Bundesrepublik radikal reduzieren und sie dort entlassen. Ihr könnt das als eine humanitäre Tat, als eine Amnestie zum 40. Jahrestag der Volksrepublik China begründen. Der Botschafter Ziebart schickte um 16.35 Uhr ein Telegramm nach Berlin. 17 Uhr – Ostberlin – auch ein Empfang zum chinesischen Volksfest: Da wurde auf einmal den SED- und Politbüromitgliedern gesagt, wir gehen in den Apollo-Saal – Frauen bleiben hier, die brauchen wir nicht – und binnen zwanzig Minuten wurde die Ausreise beschlossen. Honecker hat das eingeleitet mit der Aussage, für die tschechoslowakischen Genossen sei das nicht mehr tragbar, sie hätten die Lage nicht mehr unter Kontrolle, man müsse jetzt und hier handeln. Es wurde der Beschluss gefasst, die so genannten Erpresser in die Bundesrepublik zu entlassen, allerdings mit dem Umweg über die DDR, damit wir zeigen, wir haben die Lage unter Kontrolle. Außerdem haben sie Angst gehabt, wenn sie die Leute aus Prag direkt in den Westen entlassen würden, würde sich eine weitere Flüchtlingswelle erheben und die Leute würden versuchen, über Prag in den Westen auszureisen.“

Botschaftsflüchtlinge 1989  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Inwieweit haben die Geschehnisse in der Botschaft das Geschehen in der Tschechoslowakei beeinflusst? War das ein Impuls zu Veränderungen auch in der hiesigen Gesellschaft?

„Ich habe das in meiner Studie absichtlich nicht einen Impuls, sondern einen Katalysator dieser Entwicklung genannt. Der Massenexodus der Deutschen über Prag (man konnte das ja auch im Fernsehen sehen), die langen Reihen der abgestellten Trabis, der Mut der Leute, die alles zurückließen und nur mit dem, was sie am Leib trugen, über den Zaun der Botschaft klettern, das hat die Leute beeindruckt. Es hat also zu einem Stimmungswandel geführt. Es war offensichtlich, dass das Regime in der DDR dabei ist zu Versagen. Ein Journalist hat die Stimmung gut beschrieben: Die Trabi-Fahrer seien ins Mercedes-Land abgefahren. Die Polen hätten etwas gemacht, die Ungarn hätten etwas gemacht und sogar die braven, die disziplinierten Ost-Deutschen machten jetzt fast eine Revolution. Jetzt müssten wir eigentlich auch etwas machen. Eindeutig ist, es hat zu dem Stimmungswandel beigetragen. Und dann hat die Entwicklung noch einen Zündfunken gebraucht, zu dem eben die Studentendemonstration am 17. November wurde, die so brutal niedergeschlagen worden ist.“