Vom Kurs abgekommen? Die Visegrád-Gruppe

Foto: Archiv des polnischen Sejms

Anfang der Woche sind die Parlamentsvorsitzenden aus den vier Visegrád-Ländern in Prag zusammengekommen. Dabei wurde des demokratischen Umschwungs vor 30 Jahren gedacht. Bei dieser Gelegenheit forderten sie, von den anderen Mitgliedern der EU ernst genommen zu werden. Liberale Politikwissenschaftler denken jedoch, dass dies nicht das Problem sei. Die Vierergruppe habe sich vielmehr von ihren früheren Idealen weit entfernt. Zur Sprache kam dies bei einer Podiumsdiskussion, die bei der Konferenz des Tschechischen Rundfunks zu „Europa ohne den Eisernen Vorhang“ veranstaltet wurde.

Foto: Archiv des polnischen Sejms
Als sich am Montag die Parlamentsvorsitzenden aus den Visegrád-Staaten trafen, ging es immer wieder auch um die Stellung ihrer Länder innerhalb der EU. Der Chef des tschechischen Abgeordnetenhauses etwa, der Ano-Politiker Radek Vondráček, forderte das Recht auf eine abweichende Meinung innerhalb Europas. Und sein Kollege aus dem tschechischen Senat, Jaroslav Kubera von den Bürgerdemokraten, sagte:

„Es hat sich gezeigt, dass die Visegrád-Gruppe sinnvoll ist. Sie ist keine Organisation, die gewollt Probleme bereitet. Weil wir aber hier in Mitteleuropa während des Totalitarismus alle gemeinsame historische Erfahrungen gemacht haben, werden wir in Europa häufig als Troublemaker angesehen. Denn manche EU-Altmitglieder schauen immer noch etwas auf uns herab.“

Prinzip der Angst

Illustrationsfoto: Gerd Altmann,  Pixabay / CC0
Das schwierige Verhältnis der Alt- zu den mitteleuropäischen Neumitgliedern ist eigentlich erst im Laufe der Flüchtlingskrise wirklich sichtbar geworden. Die Idee von Umverteilungsquoten wurde in Prag, Warschau, Budapest oder Bratislava als Versuch dargestellt, die Souveränität der Staaten zu begrenzen. Ist das aber das Hauptproblem? Der Verfassungswissenschaftler Jiří Přibáň von der Universität in Cardiff äußerte sich vergangene Woche dazu. In einer Diskussionsrunde bei der Konferenz „Europa ohne den Eisernen Vorhang“ sagte er:

„Ich denke, es hat sich gezeigt, dass Mitteleuropa die Freiheit nicht im Blut hat. Denn es gibt viele dunklere Seiten in diesem Teil Europas. Mich hat geschockt, wie schnell hierzulande zu einer identitären Politik übergegangen wurde, obwohl die Tschechoslowakei nach dem Krieg zweimal selbst Erfahrungen gemacht hat mit Emigration und Flucht – und zwar ab 1948 und ab 1968. Den Visegrád-Vier geht es allerdings nicht darum, Wirtschaftsmigration von Flucht zu unterscheiden. Vielmehr ist das Ziel, niemanden hereinzulassen. Mitteleuropa verhält sich nicht nach dem Prinzip der Freiheit, sondern der Angst. Und Angst bindet einem die Hände, sie ist immer der größte Feind der Freiheit.“

Illustrationsfoto: Gerd Altmann,  Pixabay / CC0
Jiří Přibáň geht wie die Parlamentsvorsitzenden von besonderen historischen Erfahrungen in den Staaten des östlichen Mitteleuropas aus. So nutzt er zum Beispiel einen Begriff, den unter anderem Milan Kundera im Jahr 1967 geprägt hat. Dieser hat die Tschechen als „nicht-selbstverständliche Nation“ bezeichnet. Denn im 19. Jahrhundert hätten die Grundlagen für eine eigenständige Kultur erst wieder aufgebaut werden müssen, angefangen bei der Sprache bis hin zum Schulwesen. Laut Přibáň zeigt sich dieses Problem bis heute.

„Ich möchte jetzt nicht über die lange Zeit der autoritären, illiberalen Herrschaft reden. Aber ich denke, dass wir uns als sogenannte ‚nicht-selbstverständliche Nationen‘ im Unterschied zu anderen Gesellschaften vorrangig mit nationalen Fragen beschäftigen. Erst danach kommen Demokratie und Freiheit. In Wahrheit kann man das aber nicht voneinander trennen. Denn was ist ein Volk ohne Demokratie und Freiheit?“, so Jiří Přibáň.

Rückkehr zum Nationalismus

Jacques Rupnik  (Foto: Adam Kebrt,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die Visegrád-Gruppe wurde im Februar 1991 von drei Staatschefs gegründet, die alle zuvor Dissidenten gewesen waren: Václav Havel aus Tschechien, Lech Wałęsa aus Polen und Arpad Göncz aus Ungarn. Die Geburt dieses Zusammenschlusses hat damals auch der tschechisch-französische Politologe und Historiker Jacques Rupnik begleitet. Er sagt, dass man drei Ziele vor Augen hatte: den demokratischen Wandel, die Überwindung nationalistischer Konflikte und die Rückkehr nach Europa. In der Diskussionsrunde unter anderem zusammen mit Přibáň äußerte sich Rupnik auf folgende Weise:

„Wenn ich das nacheinander nun analysiere, dann sehe ich eine Abkehr von der Demokratie. Zum Zweiten können wir eine Rückkehr zum Nationalismus beobachten. Das ist im Kontext der Migrationskrise deutlich geworden, die Krise ist nicht selbst die Ursache dafür. Das ist ein Charakteristikum in Mitteleuropa, das bereits 1944 der ungarische Autor Istvan Bibo in seinem Buch beschrieben hat, also noch während des Zweiten Weltkriegs. Darin macht er sich Gedanken über die 1930er Jahre und schreibt: Es ist eine Gefahr für die Demokratie, wenn die Sache der Freiheit in Konflikt gerät mit der Sache des Volkes. Den nationalpopulistischen Führern in Mitteleuropa, allen voran Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński, ist es gelungen, die Migrationsfrage genau in diesem Geist zu stellen. Nämlich dass wir die Wahl hätten zwischen dem Schutz des Volkes und der Bewegungsfreiheit.“

Visegrád-Vier-Treffen  (Foto: YouTube)
Zudem habe sich das östliche Mitteleuropa nur scheinbar in die EU integriert, meint Rupnik. Sichtbar werde das daran, dass die Zusammenarbeit mit dem Rest Europas in der Frage der Flüchtlingskrise verweigert worden sei.

„Dabei möchte ich jetzt nicht analysieren, ob die angebotene Lösung richtig war und verständlich formuliert wurde. Darüber ließe sich lange debattieren. Aber hier wird sich – zumindest in der westlichen Wahrnehmung – symbolisch abgegrenzt und die Trennungslinie sichtbar gemacht. Das halte ich für wichtig festzustellen, da wir gerade 30 Jahre nach der Samtenen Revolution feiern: Die Visegrád-Gruppe hat sich in das Gegenteil dessen verwandelt, was ihr Ziel gewesen ist. Sie ist heute eine Trotzveranstaltung gegen die EU, dabei sollte sie die Rückkehr nach Europa sein“, so Rupnik.

Die absolute Macht verhindern?

Foto: Elekes Andor,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0 DEED
Der Jurist Přibáň lenkt wiederum den Blick auf die Frage der Macht und auf den Umgang mit Institutionen in den einzelnen Staaten. Allgemein postuliert er:

„Wichtig ist, die unabhängigen Institutionen zu stärken. Denn Parteien werden immer versuchen, deren Unabhängigkeit zu beschneiden oder aufzuheben.“

Gerade Tschechien könne noch von Glück reden, erläutert der Wissenschaftler aus Cardiff. Denn bisher habe noch immer die stärkste Partei mindestens einen Koalitionspartner gebraucht, um regieren zu können. In Ungarn und Polen hingegen seien die Fidesz und die PiS bereits in der Lage, alleine Verfassungsänderungen durchzudrücken. Aber er sieht auch Gefahren darüber hinaus:

Jiří Přibáň  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Die Verflechtung von wirtschaftlicher Macht und Parteistrukturen bedeutet heute ein hohes Risiko nicht nur für die neuen Demokratien, sondern auch für die alten. Dieses Risiko machen wir uns immer noch nicht wirklich bewusst. Und wenn es uns dann klar wird, ist es schon zu spät. Das heißt, der Kampf um die Demokratie und überhaupt den Rechtsstaat verlagert sich weg von der Frage, wer die Macht hat. Es geht vielmehr darum, wer die Übernahme der absoluten Macht verhindern kann.“

Ungarn habe bereits kapitulieren müssen, inklusive einer Änderung der Verfassung in entsprechender Weise, so Jiří Přibáň. In Polen sei hingegen die Zivilgesellschaft zu stark dafür, als dass sie sich auf lange Sicht etwas diktieren lasse. Dort wurde zwar die Opposition aufgehoben, aber nicht die Verfassung.

„In Tschechien und der Slowakei ist die Lage etwas besser, aber die Risiken und Bedrohungen sind qualitativ dieselben“, meint der Verfassungsexperte von der Uni in Cardiff.