Das Jüdische Prag von Mythen befreit: Bücher deutscher Historikerinnen

Foto: Verlag Oldenbourg

Das jüdische Prag ist zwar ein Begriff. Dennoch schrumpft es vor allem aus Sicht vieler Touristen auf Franz Kafka, Rabbi Löw und den Golem. Zwei deutsche Historikerinnen haben sich aber mit der jüdischen Geschichte von Prag intensiv beschäftigt und dazu nun zwei neue Bücher herausgebracht. Ines Koeltzsch‘ Veröffentlichung nennt sich „Geteilte Kulturen“. Ihr Buch hat sie anlässlich der internationalen Buchmesse vorgestellt. Darin beschäftigt sie sich mit den tschechisch-deutsch-jüdischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit. Das Buch von Martina Niedhammer heißt „Nur eine ,Geld-Emanzipation‘?“. Die Historikerin stellt dabei das Prager jüdische Großbürgertum des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt ihrer Forschung. Martina Schneibergová hat mit den beiden Autorinnen Ines Koeltzsch und Martina Niedhammer gesprochen.

Ines Koeltzsch  (Foto: Archiv des Tschechischen Zentrums München)
Frau Koeltzsch, was war der Beweggrund für die Entstehung Ihres Buchs?

„Mein Buch heißt ,Geteilte Kulturen‘. ,Geteilt´ hat im Deutschen doppelte Bedeutung. Ich habe den Titel gewählt, weil die Historiographie über Prag sehr polarisiert war. Es gibt die Geschichtsschreibung über das Prag der Zwischenkriegszeit, es gibt einige Studien zu Prag in der Kafka-Zeit. Meist wird die damalige Gesellschaft als sehr gespalten präsentiert. Das hat aber damit zu tun, dass der Blick meist in eine bestimmte Richtung oder auf bestimmte Quellen gerichtet wurde und auf andere Quellen verzichtet wurde – beispielsweise auf jüdische Quellen oder, in der deutschsprachigen Forschung, auf tschechische Quellen und umgekehrt in der tschechischen Forschung auf deutschsprachige Quellen. Mein Buch plädiert für eine integrierte Stadtgeschichte und dass man als Historiker möglichst vielseitige Quellen berücksichtigen sollte. Wenn man eine Geschichte Prags schreibt, sollte man deutsche und tschechische Quellen studieren und vor allem auch jüdische Quellen einbeziehen.“

Foto: Verlag Oldenbourg
Früher wurden auch in der Schule viele Klischees gelehrt über die jüdische Geschichte Prags. Kann Ihr Buch dazu beitragen, wolche Klischees zu beseitigen?

„Das war auch eine Motivation. Ich habe viele literarische Essays über Prag sowie Erinnerungen gelesen. Ganz häufig transportieren diese Erinnerungen bestimmte Klischees. Man findet in den Texten oft Metaphern von chinesischen Mauern, von einem dreifachen Ghetto und andererseits von den Brücken und von der Symbiose. Es gibt also auch diesen romantisierenden Mythos. In einigen Erinnerungen findet man beides an verschiedenen Stellen. Dies war der Ausgangspunkt, warum die Erinnerungen so voll von Metaphern waren und warum eine so starke Trennung betont und das Zusammenleben andererseits wiederum romantisiert wurde. Ich habe versucht, in vielen verschiedenen Quellen zu lesen und zu zeigen, dass es auch Verbindendes gibt, wo Sachen ausgeblendet werden oder wo der Konflikt betont wird und umgekehrt, dass dort, wo romantisiert wird, auch Konflikte verschwiegen werden.“

Um welche Zeit geht es in Ihrem Buch?

Erste Tschechoslowakische Republik  (Foto: Public Domain)
„Mein Buch betrifft die Zwischenkriegszeit, also die Erste Tschechoslowakische Republik. Aber man kann keine Geschichte Prags in der Ersten Republik schreiben, ohne die Entwicklungen vor 1918 zu kennen. Ich habe mich darum bemüht, für jedes Kapitel einen kurzen Rückblick darüber zu verfassen, wie die städtische Gesellschaft vor 1918 funktioniert hat. Daran habe ich dann meine Analyse angeknüpft. Ich habe vier Öffentlichkeitsbereiche untersucht: Einerseits sind es die Experten – die Demographen. Einige Demographen haben die städtische Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit beschrieben. Dann habe ich mit damit befasst, wie die Beziehungen in der Kommunalpolitik ausgesehen haben. Und als die Drittes und Viertes habe ich die intellektuelle und die populär-kulturelle Öffentlichkeit ausgesucht. Bei ihnen war im Unterschied zu den ersten beiden Öffentlichkeiten der Versuch sehr stark, nationale Grenzen abzubauen.“

Martina Niedhammer  (Foto: Archiv Collegium Carolinum)
Frau Niedhammer, in Ihrem Buch befassen Sie sich mit den jüdischen Eliten in Prag des 19. Jahrhunderts. Wie war Ihr Leben? Kann man bei diesen Familien von einer Assimilation sprechen?

„Nein, es gab eben keine Assimilation im klassischen Sinne. Das wäre meist mit der Aufgabe einer bestimmten Identität oder einer bestimmten Facette dieser Identität verbunden gewesen. Ich versuche eher zu beschreiben, welche Möglichkeiten sich für diese Familien ergaben und in welcher Vielfalt sie am Prager städtischen Leben teilnahmen.“

Welche Familien sind aus dieser Zeit am bekanntesten?

„Es gab insgesamt etwa 20 Familien, die ich zu dieser Elite zählen würde. Fünf davon habe ich ausgewählt. Die heute zweifellos am bekanntesten ist die Familie Porges von Portheim, die wir heute noch dank der schönen Villa Portheimka in Smíchov kennen. Eine andere bekannte Familie war die Familie Lämel, die in Verbindung mit zahlreichen prominenten Persönlichkeiten der tschechischen Nationalbewegung stand, ob das František Ladislav Rieger oder sein Schwiegervater František Palacký waren. Familie Lämel war mit ihnen beiden befreundet und hat sie in deren Arbeit unterstützt. Ebenfalls bekannt waren sie mit Václav Hanka. Eine Tochter der Familie Lämel hatte bei ihm Tschechisch-Unterricht.“

Wie begann der wirtschaftliche Aufstieg dieser Familien?

„Dieser war sehr rasch und wurde begünstigt durch die Kontinentalsperre, die Napoleon verfügt hatte. Das heißt, aus England konnten keine Textilien nach Europa gelangen. In diese Lücke stießen jüdische und nicht-jüdische Unternehmer. Allerdings blieb der Erfolg auch nach der Aufhebung der Sperre bestehen. Die Produkte galten damals als relativ günstig. Die Familien haben ihre Firmen bis in die 1870er Jahre betrieben.“

Haben Sie sich auch mit dem religiösen Leben dieser Familien beschäftigt?

„Ja, davon handelt ein ganzes Kapitel in meinem Buch. Darin geht es einerseits um die religiösen Orte, die sie aufgesucht haben, und andererseits um die Richtungen in der Gemeinde, denen sie sich anschlossen. In Kürze würde ich sagen, dass man da kein einfaches Bild zeichnen kann, es war sehr vielfältig. Es geht auch darum, wie sie versucht haben, das Judentum zu fördern, wie sie sich mit ihrer jüdischen Identität in ihren Memoiren auseinandergesetzt haben.“