Im Schatten des Betonnachbarn – Wie lebt es sich in Temelín?

Atomkraftwerk Temelín

Temelín ist wohl das bekannteste Dorf in Tschechien. Die Diskussionen um die Erweiterung des Atomkraftwerkes werden jedoch anderswo geführt – in Prag, in Österreich, in Brüssel. Hat man sich in Temelín also an den Reaktor gewöhnt? Ist das Leben hier wie in jedem anderen tschechischen Dorf? Christian Rühmkorf hat auf seiner Tour durch Böhmen nachgefragt?

Das Leben im Dorf Temelín, im Schatten des Atomkraftwerkes, scheint seinen normalen Gang zu gehen. Aber kein anderes Dorf in Tschechien steht unter so scharfer Medien-Beobachtung wie die 800-Seelen-Gemeinde, meint Bürgermeister Macháček:

„Da muss nur mal eine Maus durch die Kommandozentrale des Kernkraftwerks laufen, dann erfahren wir das gleich am nächsten Tag. Aber nicht direkt, sondern aus Prag, aus Fernsehen und Zeitung.“

Die Menschen hätten sich mittlerweile an den gigantischen Betonnachbarn gewöhnt. Dennoch: Der Alltag in Temelín ist anders als in anderen Dörfern. Jeder Bürger hat in seiner Hausapotheke Jodtabletten zur Hand. Die Gemeinde verteilt sie alle zwei Jahre für den Ernstfall.

„Jeder in Temelín bekommt außerdem umsonst einen Kalender vom Kraftwerkbetreiber. Da steht im Detail drin, was bei einem Störfall zu tun ist. Den hat jeder hier zu Hause hängen“, so der Bürgermeister.

Atomkraftwerk Temelín  (Foto: Archiv ČEZ)
Tabletten und Kalender, Sirenen, Lautsprecher und Krisenstab – das Dorf Temelín ist vorbereitet für den Fall, den hier keiner wirklich Ernst nimmt.

Dennoch: Das Leben vor dem Atomkraftwerk war ruhiger, erzählt der Bürgermeister. Und die Hoffnung auf Arbeit, hat sich für die wenigsten erfüllt:

„Jetzt sind im Kraftwerk fast nur noch Fachleute beschäftigt. Für uns bringt das kaum neue Arbeitsplätze. Die Menschen in Temelín hoffen, dass jetzt die Erweiterung des AKW wieder Aufschwung bringt.“

Václav, 21 Jahre, sitzt mit ein paar Freunden in der Dorfkneipe. Er hat im Atomkraftwerk Arbeit gefunden. „Security“, sagt er knapp. Das Kraftwerk macht ihm nichts aus. Angst, dass etwas passieren könnte, hat er nicht. Auch Lukas nimmt es gelassen:

„Uns jungen Leuten ist das egal. Uns gefällt es hier. Abends ist das Kraftwerk schön erleuchtet und wer weiß, vielleicht finden wir dort ja Arbeit. Da wäre ich glücklich.“

Und die Jodtabletten?

„Keine Ahnung, die habe ich irgendwo in der Schublade.“

Auch eine ältere Dorfbewohnerin, die noch ein Leben ohne Kraftwerk kennen gelernt hat, pfeift auf die Jodtabletten:

„Die geben sie uns, um uns ruhig zu stellen“, meint die rund 60-jährige Frau. „Hier schweigt inzwischen jeder. Das ist hoffnungslos. Die machen hier, was sie wollen. Mit oder ohne uns.“

Und wie lebt es sich sonst in Temelín?

„Das Leben in Temelín ist scheiße. Wir haben nichts davon, nicht mal Arbeit.“