Investoren im Dilemma: Wachstum trifft auf Arbeits- und Fachkräftemangel

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Die tschechische Wirtschaft boomt – doch sie stößt an Grenzen. Denn der Industrie fehlen die Arbeitskräfte. Auf dieses Problem macht seit Jahren schon die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer aufmerksam. Vor kurzem hat die Kammer dazu eine Umfrage veröffentlicht. Auch der tschechischen Regierung ist der Arbeitskräftemangel bewusst. Doch Änderungen werden Zeit brauchen.

Pavel Roman  (Foto: Archiv von Pavel Roman)
Pavel Roman von der Firma Bosch in Tschechien ist Vizepräsident der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer. Er weiß, wie sich die Lage darstellt:

„Die Tschechische Republik ist ein Opfer ihres Erfolges. Das Land ist eine der ersten Adressen, wenn es allgemein für ausländische – und nicht nur deutsche – Firmen darum geht, ihre Investitionen auszuweiten. Wir haben aber Nachrichten von mehreren konkreten Firmen, die leider entweder ihre erste Investition hierzulande oder nachfolgende Investitionen nicht verwirklicht haben.“

Die Arbeitslosenzahlen sind in den vergangenen Jahren hierzulande stark zurückgegangen. Die Quote derer, die nach einer Beschäftigung suchen, liegt mittlerweile unter fünf Prozent. Das hat die Situation noch verschärft. Oder wie Pavel Roman sagt:

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„Es gibt rund 300.000 Menschen, die arbeitslos gemeldet sind. Zugleich sind 140.000 Stellen unbesetzt. Doch die Hälfte der Arbeitslosen wird wohl nicht mehr in eine Beschäftigung zurückkehren. Bei der anderen Hälfte wäre die Umschulung zu aufwendig und langwierig, um sie für die geforderten Professionen auszubilden.“

Umfrage: 85 Prozent der Firmen fehlen die Fachkräfte

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Tatsächlich fehlt es überall: von einfachen Arbeitskräften, über IT-Spezialisten oder Elektroniker, bis zu Bürokaufleuten. Die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer wollte mehr wissen über den Stand der Dinge. Deswegen hat sie die Firmen hierzulande befragt. Etwa 3000 Briefe gingen hinaus, nicht nur an Mitglieder, sondern auch an weitere Hersteller. 216 Betriebe haben geantwortet. Es waren zu fast zwei Dritteln Unternehmen aus der Industrieproduktion, die meisten von ihnen kleine und mittelständische.

Christian Rühmkorf  (Foto: Archiv von Christian Rühmkorf)
„Die Kernfrage, die wir gestellt haben, betraf die Verfügbarkeit von Fachkräften. Da kam ein ziemlich dramatisches Ergebnis heraus: Über 85 Prozent der befragten Firmen finden nicht ausreichend Fachkräfte mit Berufsausbildung. In unserer Umfrage von 2012 waren es mit 69 Prozent bereits enorm viele gewesen. Und jetzt haben wir noch einmal eine Steigerung um 16 Prozentpunkte“, so Christian Rühmkorf, der die Öffentlichkeitsarbeit der Handelskammer leitet.

Der Hintergrund ist: Das Berufsschulsystem in Tschechien ist dringend reformbedürftig. Die amtierende Regierung hat dies auch erkannt. Aber es geht aus Sicht der Industrie nur schleppend voran. Dabei sind viele Firmen bereit, sich an einer Art dualer Ausbildung wie in Deutschland oder Österreich zu beteiligen. Dies hat die Umfrage erstmals gezeigt.

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„Die Frage lautete: Würde Ihr Unternehmen die Verantwortung für den betrieblichen Teil der Ausbildung übernehmen? Bei der Zahlung einer Ausbildungsgrundvergütung, die wichtig ist, erklärten sich zumindest in der Umfrage 82 Prozent dazu bereit. Einen Ausbildungsvertrag mit den Azubis würden 78 Prozent der Firmen abschließen“, so Christian Rühmkorf.

Mehr Elemente der dualen Berufsausbildung

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Die Ergebnisse der Umfrage haben die Kammer in ihren Forderungen an die tschechische Politik bestärkt. Pavel Roman:

„Wir halten Änderungen im System für nötig. So müssen technische Berufe wieder attraktiver gemacht werden. Das heißt, diese Berufe sollten anders gelehrt werden, mit Elementen der dualen Ausbildung. Mindestens sollte also der Praxisanteil direkt im Unternehmen erhöht werden. Zweitens sollte dieser Praxisanteil verbessert werden. Ein Azubi muss auch etwas zu tun bekommen und nicht einfach nur rumsitzen. Drittens müssen wir den Eltern beibringen, dass die Zeit der dreckigen Fertigung schon längst vorbei ist. Der heutige Betrieb ist meist sauber, und es werden Produktionsschritte gemacht, die die Eltern gar nicht mehr kennen. Dies geht in Richtung Industrie 4.0. Denn viertens müssen wir die Produktivität steigern, wenn wir die Leute schon nicht haben. Und das erfordert ein gewisses Maß an Automatisierung und Digitalisierung. Dazu braucht es aber extra ausgebildetes Personal.“

Petr Bannert  (Foto: ČT24)
Stichwort: duale Ausbildung. Im vergangenen Jahr hat das Bildungsministerium empfohlen, nicht das Berufsbildungssystem aus Deutschland zu kopieren. Stattdessen will man einen eigenen Weg finden. Dies bedeutet eine freiwillige Kooperation zwischen Berufsschulen und den Firmen. Doch dazu muss an vielen kleinen Stellschrauben gedreht werden, ein komplizierter Prozess. Ende November hat das Bildungsministerium zum Beispiel Änderungen am geplanten Schulgesetz erwirkt. Petr Bannert ist im Ressort für den Bereich mittlere und höhere Bildung zuständig:

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„Den Schulen erlegen wir auf, die Lehrpläne für die Fachausbildung zusammen mit den Arbeitgebern zu erstellen. Sie sollen auch zusammen mit ihnen die praktische Ausbildung gestalten, Schulungen für das Lehrpersonal in den Firmen arrangieren und Fachleute aus den Firmen in den Schulunterricht einbeziehen.“

Problem „Kopfgeldprämie“

Schon jetzt versuchen viele Unternehmen, auf eigene Faust mit Berufsschulen zu kooperieren. Diese haben aber teils andere Ziele als die Industrie. Das liegt unter anderem daran, dass die Berufsschulen bisher noch eine „Kopfgeldprämie“ je Azubi erhalten. Kurze und billige Ausbildungsgänge sind daher attraktiver als etwa anspruchsvolle. Auch das soll aber geändert werden.

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„Zum 1. September 2019 soll das neue Schulgesetz mit einem neuen Finanzierungssystem in Kraft treten. Demnach werden die Gelder an die Schulen nicht mehr per Kopf ausgezahlt, und der Absaugeffekt dürfte zurückgehen. Zudem soll dieselbe Qualität und derselbe Umfang an Ausbildung zum Beispiel zum Elektriker garantiert werden, ob das nun etwa in Ostrau oder in Pilsen ist“, so Petr Bannert.

Vor etwa 15 Jahre setzte in Tschechien ein Run auf geisteswissenschaftliche Disziplinen ein. Die technischen Fächer gerieten ins Hintertreffen. Doch beim Bildungsministerium beobachtet man bereits eine leichte Trendwende:

Foto: Kristýna Maková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
„Obwohl die Gesamtzahl der Kinder sinkt, wächst der Anteil der Schüler, die eine Ausbildung in Informatik, Elektrotechnik oder Maschinenbau beginnen. Das ist sehr positiv. Zugleich fällt der Anteil jener, die in die Bereiche Dienstleistungen und Wirtschaftswissenschaften gehen. Dort lag nach 1989 der Trend, wobei gerade in diesen Bereichen ein hoher Anteil Arbeitsloser besteht.“

Gebraucht werden allerdings rund 100.000 Arbeits- und Fachkräfte. Helfen könnte auch eine gesteuerte Zuwanderung. In gewissem Maße bemüht sich das aktuelle Kabinett auch darum. Innenminister und Industrieminister setzen vor allem auf Kräfte aus der Ukraine. Sie haben eine geringe Sprachbarriere, sind aber gut geschult. Doch schon bei der Vergabe von Visa hakt es, unter anderem weil sich mittlerweile die Mafia vor den tschechischen Vertretungen in der Ukraine eingenistet haben soll.


„Bei der Ausbildung der Fachkräfte müssen wir uns selbst behelfen.“

Den Arbeitskräftemangel kennt man bei der Borgers Group nur zu gut. Der Textilhersteller aus Bocholt beliefert die Automobilindustrie und betreibt ein Werk im westböhmischen Rokycany / Rokitzan. Wie sich die Lage aus Sicht des Familienunternehmens darstellt, schildert Uwe Hengstermann im Gespräch für Radio Prag. Hengstermann ist CEO von Borgers in Tschechien:

Uwe Hengstermann  (Foto: Archiv BORGERS CS)
„Die Firma Borgers ist in der fünften Generation nun seit 150 Jahren Automobilzulieferer. Wir haben mit Kutschböcken angefangen. Seit 20 Jahren sind wir auch in der Tschechischen Republik. Weltweit beschäftigen wir 7000 Menschen, 3500 sind es hierzulande. Davon sind mittlerweile 1000 aus Bulgarien und Rumänien, weil wir einfach am tschechischen Arbeitsmarkt die Leute nicht finden. Die Automobilindustrie verpflichtet einen zu Lieferungen für den gesamten Lifecycle eines Modells. Das heißt, wir können nicht einfach die Produktion runterfahren und Kapazitäten anpassen. Wir müssen die Lage irgendwie managen. Deswegen arbeiten wir mit Leiharbeitsfirmen zusammen und haben eben Bulgaren und Rumänen beschäftigt – mit all den Problemen, die dabei entstehen. Das Weitere ist aber, dass wir sieben Tage in der Woche produzieren. Die Maschinen müssen also weiterlaufen. Wenn der Roboter stehenbleibt, müssen ein Programmierer und ein Elektrotechniker her. Wenn die nicht zur Verfügung sind, dann steht die Produktion, und es gibt erhebliche Probleme. Wir bilden unsere Leute mittlerweile selbst aus, und zwar an anderen Standorten, wo wir die entsprechende Technologie haben. Und die Arbeiter aus dem Ausland versuchen wir, nach und nach zu integrieren. Wir müssen uns leider an dieser Stelle selbst helfen.“

Foto: InIT Lemgo,  CC BY-SA 3.0
Wie schränkt Sie das konkret ein?

„Indem wir in Tschechien erstmal nicht weiter wachsen werden. Nicht, weil wir nicht könnten oder wollten, sondern weil es weder Personal noch Fachkräfte gibt. Das bedeutet, wir werden zwar weiter neue Aufträge annehmen, aber dann eben mit halber Mannschaft. Was früher zehn Leute gemacht haben, mit dem Low-Cost-Land-Gedanken, also Handarbeit statt Maschinen, wird jetzt umgedreht. Genau wie in Deutschland wird nun industrialisiert und automatisiert. Das erfordert dann wieder mehr Programmierer, mehr Fachkräfte, womit sich das nächste Thema auftut. Aber das ist der Weg, den wir jetzt gehen werden.“

Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Berufsschulen? Und wie sehen Sie die Arbeit an den Berufsschulen?

„Die Berufsschulen bilden lieber Köche aus als Mechatroniker.“

„Schwierig. Wir sind in Rokycany, im Kreis Pilsen angesiedelt. Bei uns im Ort gibt es nicht so viele Berufsschulen, mit denen wir kooperieren könnten. Es gibt ja auch immer noch diese Kopfgeldprämie an den Berufsschulen. Wenn man zum Beispiel Mechatroniker ausbilden lassen will, dann braucht man eben für eine attraktive Finanzierung 25 Leute in einem Jahrgang. Die kriegen wir aber ad hoc nicht zusammen. Wir haben schon gesagt, wir würden die Räumlichkeiten dafür stellen, eine Lehrwerkstatt, Ausbilder, einfach alles. Aber die Schulen sind einfach nicht dazu bereit, den letzten Schritt zu gehen und sich umzustellen. Sie bilden lieber weiter Köche und Kellner aus, mit denen sie die Klassen schnell vollbekommen können.“

Autor: Till Janzer
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